Feier für die Opfer des Faschismus 1945
Artikel der Lübecker Post vom 19. September 1945
Lübecker Feier für die Opfer des Faschismus
Große Kundgebung vor dem Krematorium – Ergreifende Ansprache des Polizeipräsidenten
Am gestrigen Nachmittag fand in Lübeck auf dem Platz vor dem Krematorium[1] eine große Trauerfeier für die Opfer[2] des Faschismus statt. Eine riesige Menschenmenge nahm an der Feier teil, und man merkte es den meisten Teilnehmern an, daß sie den Opfern des Faschismus, denen zu Ehren diese Kundgebung abgehalten wurde, als nahe Verwandte, als Freunde oder Mitstreiter nahe gestanden hatten. Das gab der Feier das besondere Gepräge: die schlichte Ergriffenheit, die die große Menschenmenge beseelte, jene echte Ergriffenheit, die aus dem Herzen kommt, und nicht jene Pseudo-Ergriffenheit, die das Produkt einer willkürlichen Propaganda ist.
Der Eingang zum Krematorium war mit einem großen dunklen Vorhang malerisch verhängt, auf dem mit silberner Stickerei das Reis der Hoffnung sich abhob. Sehr viele und große Kränze waren auf der Treppe drapiert, wodurch das feierliche Gepräge der Stunde eindrucksvoll herausgehoben wurde. Um 16.20 Uhr begannen die Glocken zu läuten. Dann spielte das städtische Orchester, danach sang die Graphische Liedertafel.
Polizeipräsident Passarge spricht
Der Polizeipräsident[3] – selbst einst Insasse des Konzentrationslagers – fand ergreifende Worte für die toten Gefährten und Mitstreiter, Worte, wie sie nur aus dem gleichen Erleben geboren werden. Blutig war die Saat, so führte er weiter aus, und furchtbar ist die Ernte. Er umriß die heutige Lage Deutschlands und betonte, daß es gilt, unerschütterlich und unermüdlich an die Arbeit zu gehen, um eine bessere Zukunft zu bauen. Durch die Teilnahme von Oberbürgermeister Helms[4] an der Feier sei sie zum Staatsakt erhoben, und es sei auch kein Zufall, daß gerade dieser Tag gewählt wurde, weil es nämlich der Todestag des Lübecker Vorkämpfers Karl Kaehding[5] sei, der vor zwölf Jahren im Kampf gegen den Faschismus sein Leben ließ.
Die Worte des Redners gingen zu Herzen und es herrschte atemlose Stille, als er die Namen der Lübecker Opfer des Faschismus verlas. Es sind dies: Karl Kaehding, Hans Vick[6], Dr. Fritz Solmitz[7], Paul Sterley[8], Pastor Stellbrink, Kaplan Prassek, Kaplan Lange, Kaplan Müller, Karl Fick[9], Stockelsdorf, Heinrich Freyherr[10], Heinrich Behm[11], Hannes Holthusen[12], Hannes Grube[13], Hermann Seebach[14], Karl Roß[15], Fritz Weber[16], Wilhelm Siemanski[17], Hermann Schmidt[18], Minna Klann[19], Minna Meyer[20], Frieda Hammer[21], Max Grimm[22], Otto Nitzschke[23], Paul Hattenbach[24], Emil Dibbert[25], Ernst Behling[26], Jonni Brur[27]. Nachdem die Namen der Toten verklungen waren, gedachte Präsident Passarge noch des alten Mitstreiters Dr. Leber[28], über dessen Schicksal aber noch nichts Genaues bekannt sei. Es bestände Hoffnung, daß er noch am Leben sei[29]. Der Redner fand dann aufrüttelnde Worte der Ermunterung für die Lebenden, die er aufrief, mit aller Kraft für das Ziel zu arbeiten, für das die Toten gestorben sind.
Ehrung am Grabe Kaehdings
Wieder erklang die Totenklage der Musik. Nachdem das städtische Orchester und die Graphische Liedertafel und der Chorverein geendet hatten, bildete sich ein endloser Zug, der sich hinbewegte nach dem Grabe Karl Kaehdings. Schweigen schritt die riesige Menge durch den herbstlichen Friedhof. Vornweg die lange Reihe der Kranzträger, dann die Behördenvertreter, der Siebener-Ausschuß[30], die Angehörigen der Toten und die Konzentrationäre, die in den Lagern gelitten haben. Das Grab Kaehdings liegt ganz abseits. Damals mußte er bestattet werden in einer unübersichtlichen Ecke des Friedhofs, wo noch die Wildnis herrscht. Jetzt war es, als würde das Trauergeleit, das damals nicht möglich war, nachgeholt. Dort, wo der Friedhof noch wie üppiger, ungebändigter Wald ist, türmten sich jetzt die Kränze. Oberbürgermeister Helms nahm das Wort. Er ehrte die Toten in einem ergreifenden Gruß. Ein Mitglied des Siebener-Ausschusses sprach ein eindrucksvolles Gelöbnis für die im Kampf gegen den Faschismus gebliebenen Gefährten.
Info
Der nebenstehende Artikel erschien am 19. September 1945 in der Lübecker Post, einer Zeitung, die durch die britische Militärregierung (21. Heeresgruppe) als Heeresgruppenzeitung verantwortet wurde und vom 25. Juli 1945 bis 30. März 1946 erschien. Danach wurde sie deutschen Herausgebern übergeben.
Fußnoten
[1] Das Krematorium befindet sich bis heute auf dem Vorwerker Friedhof.
[2] Die jüdischen Opfer sind in diese Feierstunde nicht einbezogen. Von 91 Juden, die 1941 aus Lübeck nach Riga deportiert wurden, starben 84 im KZ. Insgesamt wurden in Schleswig-Holstein etwa 1225 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet.
[3] Otto Passarge (1891–1976) war SPD-Mitglied und wurde in der Nazizeit öfter verhaftet. Nach dem Krieg war er zunächst Polizeipräsident von Lübeck und von 1946 bis 1956 Bürgermeister.
[4] Emil Helms war 1945/46 kommissarischer Oberbürgermeister von Lübeck, berufen durch die Britische Militärregierung, danach Oberstadtdirektor.
[5] Karl Kaehding war Mitglied des Reichbanners Schwarz-Rot-Gold, ein sozialdemokratisch dominiertes Bündnis zum Schutze der Demokratie in der Weimarer Republik. 1932 hatten Kaehding und Johannes Fick alkoholisiert eine tätliche Auseinandersetzung mit dem SA-Mann Willi Meinen, bei der sie ihn verfolgten und auf ihn einstachen. Meinen verblutete auf der Straße. Nach heutiger Rechtsaufassung hätte es sich um einen Totschlag gehandelt, die Zuchthausstrafe wäre wohl aufgrund des angetrunkenen Zustands der Täter gemildert worden. Nach der „Machtergreifung“ wurden die Täter 1933 unter dem Tatverdacht des Mordes mit Vorsatz und Überlegung an Meinen verhaftet und in einem Schauprozess angeklagt. Kaehding erhängte sich nach der Urteilsverkündung am 18. September 1933 im Untersuchungsgefängnis Lübeck in seiner Zelle.
[6] Johannes Fick (nicht Vick) wurde gemeinsam mit Karl Kaehding angeklagt, er wurde am 8. März 1934 im Hof des Burgklosters hingerichtet.
[7] Dr. Fritz Solmitz war sozialdemokratischer Journalist und Politiker, zudem Jude. Er war Redakteur bei der der sozialdemokratischen Tageszeitung Lübecker Volksbote, bei der auch Willy Brandt und Julius Leber tätig waren. Solmitz wurde 1933 verhaftet. In der Haft wurde er schwer misshandelt und wurde am 19. September 1933 in seiner Zelle aufgehängt gefunden. Ob Solmitz in den Suizid getrieben wurde oder von der SS ermordet wurde ist ungeklärt. Er schrieb in der Haftzeit Tagebuch auf Zigarettenpapier, das er in seiner Taschenuhr versteckte.
[8] Paul Sterley, Sudent, Mitglied der Antifaschistischen Aktion und des kommunistisch geführten Arbeitersportvereins Fichte, wurde schon 1932 von SA-Leuten in der Nähe von Berlin von seinem Fahrrad gezerrt und erschlagen. Eine Kranzschleife seiner Beerdigung ist im Berliner Deutschen Historischen Museum inventarisiert.
[9] Karl Fick war Zimmermann und Sozialdemokrat und bis zum Verbot 1933 Kreisleiter der Gewerkschaft Deutscher Landarbeiterverband. Er war 1933 einige Monate in Schutzhaft und musste in einer Kiesgrube arbeiten. Fick wurde 1944 nach dem Hitler-Attentat im Rahmen der „Aktion Gitter“ verhaftet und ins KZ Neuengamme gebracht. Kurz vor Kriegsende wurden alle Häftlinge von dort nach Lübeck transportiert und auf dem Schiff „Cap Arcona“ eingepfercht. Wenige Tage vor Kriegsende bombadierten englische Flugzeuge das Schff, Karl Fick kam dabei mit 7000 weiteren Häftlingen ums Leben.
[10] Heinrich Freyher aus Rensefeld bei Bad Schwartau war Arbeitersportler, wurde 1933 für einige Monate in Schutzhaft genommen, dann 1943 verhaftet und wegen „Wehrkraftzersetzung“ und „Heimtücke“ vom Volksgerichtshof angeklagt. Am 9. Oktober 1944 wurde der 53-Jährige erhängt in seiner Zelle in Berlin-Tegel aufgefunden.
[11] Zu Heinrich Behm liegen uns leider keine Informationen vor.
[12] Zu Hannes Holthusen liegen uns leider keine Informationen vor.
[13] Johannes Grube war Mitglied der KPD und wurde in der Nazizeit mehrfach verhaftet, erstmals 1933. 1936 wurde er wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt, daran schloss sich eine Sicherungsverwahrung an. Er kam 1941 im KZ Sachsenhausen ums Leben.
[14] Hermann Seebach, Maschinenschlosser, bekannt mit Karl Kaeding, wurde wegen „Abhören von Feindsendern“ denunziert, verhaftet und wegen „kommunistischer Hetzreden“ und „Vorbereitung von Hochverrat“ zum Tode verurteilt. Er wurde am 3. Dezember 1942 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
[15] Karl Roß war Werftarbeiter und ab 1923 Vorsitzender der Lübecker KPD. Seit 1933 wurde er von der Gestapo beobachtet und 1941 verhaftet. Roß starb am 13. Januar 1945 im KZ Neuengamme.
[16] Fritz Weber wurde am 14. Dezember 1894 in Rathenow geboren. Er war Mitglied der SPD. In Danzig war er von 1918 bis 1920 Gewerkschaftssekretär, ab 1924 Mitglied der Danziger Stadtbürgerschaft und von 1927 bis 1936 Mitglied des Danziger Landtags. Er war Chefredakteur der „Danziger Volksstimme“, die sozialdemokratische Parteizeitung und zugleich die zweitgrößte Danziger Tageszeitung. 1939 siedelte er nach Lübeck über. Er wurde im Zusammenhang mit der „Aktion Gewitter“ am 23. August 1944 in Lübeck verhaftet und starb eine Woche später, am 30. August 1944, im Konzentrationslager Neuengamme. Als offizielle Todesursache wurde der Ehefrau Selbstmord mitgeteilt.
[17] Zu Wilhelm Siemanski liegen uns leider keine Informationen vor.
[18] Hermann Schmidt, Arbeiter und Häftling in den KZs Sachsenhausen und Dachau, starb am 24. Januar 1941 in Dachau.
[19] Minna Klann geb. Koll wurde 1900 geboren. Sie heiratete den Schlosser Erich Klann, beide waren in der KPD aktiv. 1934 wird ihr Mann verhaftet. Sie druckt Flugblätter, kontaktiert andere Widerstandsgruppen und holt illegale Schriften von Schiffen, die den Hafen anlaufen. 1935 wird sie verhaftet. Die Eheleute wurden beide wegen Hochverrats verurteilt. Am 18. April 1941 wurde sie im Lauerhof-Gefängnis ermordet.
[20] Zu Minna Meyer liegen uns leider keine Informationen vor.
[21] Zu Frieda Hammer liegen uns leider keine Informationen vor.
[22] Max Grimm wurde als Widerstandskämpfer 1935 wegen Hochverrates verhaftet. 1939 kam er ins KZ Sachsenhausen und wurde dort am 30. März 1940 ermordet.
[23] Zu Otto Nitzschke liegen uns leider keine Informationen vor.
[24] Paul Hattenbach, Buchdrucker und SPD-Mitglied, wurde im März 1940 verhaftet und strab nach fünf Tagen in der Untersuchungshaft.
[25] Zu Emil Dibbert liegen uns leider keine Informationen vor.
[26] Zu Ernst Behling liegen uns leider keine Informationen vor.
[27] Jonni Bruer (nicht Brur) wurde 1941 wegen Hochverrates verhaftet und 1942 ins KZ Mauthausen gebracht. Am 9. Januar 1943 wurde er ermordet.
[28] Dr. Julius Leber wird 1912 mit 20 Jahren SPD-Mitglied. Im Ersten Weltkrieg dient er als Offizier. Er leitete ab 1921 die sozialdemokratische Tageszeitung Lübecker Volksbote und wird 1924 Reichstagsabgeordneter. 1933 stach ein Genosse einen SA-Mann nieder, Leber wurde verhaftet, saß eine Gefängnisstrafe ab und wurde anschließend zwei Jahre in KZs festgehalten. Nach seiner Entlassung suchte er Kontakt zum Kreisauer Kreis und zu Stauffenberg. Noch vor dem Attentat am 20. Juli 1944 wurde Leber erneut verhaftet und in einem Schauprozess zum Tode verurteilt.
[29] Julius Leber wurde am 5. Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet, was zum Zeitpunkt des Zeitungsberichts noch nicht bekannt war.
[30] Der Siebener-Ausschuss war ein Gremium der antifaschistischen Aktion, in dem unter anderem Otto Passarge und Adolf Ehrtmann Mitglied waren, und das von den britischen Behörden eingesetzt war und beim Aufbau der Verwaltung und bei der Demokratisierung nach dem Krieg mithalf.
Text der Fußnoten: Sebastian Fiebig