Eduard Müller: Ein Opfer der NS-Diktatur
Eine Würdigung von Peter Möhring
Eduard Müller – ein Opfer der NS-Diktatur aus dem Studienheim St. Klemens in Bad Driburg
Am 29. Januar 2009 wurde in Bad Driburg in Höhe des ehemaligen Studienheims St. Klemens die bisherige Straßenbezeichnung „Nordfeldmark“ in „Eduard-Müller-Weg“ umbenannt. [1] Mit der neuen Namensgebung ehrte die Stadt einen früheren Schüler dieser Bildungseinrichtung, der 1943 zusammen mit drei anderen Lübecker Geistlichen der NS-Justiz zum Opfer gefallen ist. Freimütige regimekritische Äußerungen in Predigten, im Religionsunterricht und in Gruppenstunden wurden ihnen zum Verhängnis. Im dem Bestreben, jede Form von Widerstand mit schonungsloser Gewalt zu unterdrücken, sollte mit der Hinrichtung der Geistlichen gerade gegenüber den Kirchen, die sich der staatlichen Kontrolle weitgehend entzogen, eine abschreckende Wirkung erzielt werden.
Studienjahre in Bad Driburg
Wer war Eduard Müller, und was verbindet ihn mit Bad Driburg? Am 20. August 1911 in Neumünster in Holstein als jüngstes Kind geboren, wuchs er im Kreis von sechs Geschwistern auf. Seine Mutter wurde Witwe, als er noch zur Schule ging. Bei einer kärglichen Rente war sie darauf angewiesen, Stellen als Waschfrau und Stundenhilfe anzunehmen, um den Unterhalt der Familie zu sichern. Was es heißt, arm zu sein, gehört zu den Grunderfahrungen des Sohnes Eduard. Nach dem Abschluss der Volksschule erlernte er den Tischlerberuf. In diesen Jahren entstand in ihm der Wunsch, Priester zu werden. Von Wohltätern der Heimatpfarrei gefördert, trat er Ostern 1931 im Alter von 19 Jahren als Spätberufener in das Studienheim St. Klemens ein.
Das als „Studienheim“ bezeichnete Bildungsinstitut bestand aus einem privaten altsprachlichen Gymnasium und einem angeschlossenen Internat. Träger war ein von dem Vikar Bernhard Zimmermann 1922 gegründeter Verein zur Förderung von Priesterspätberufen mit Sitz in Belecke an der Möhne. Der Verein finanzierte sich aus den Mitgliederbeiträgen, den Schul- und Pensionsgeldern der Schüler sowie aus Kirchenkollekten und Spenden. Die Schule bereitete in einem sechsjährigen Studiengang auf die Reifeprüfung vor, die vor einer externen Prüfungskommission an einem vom Provinzialschulkollegium in Münster bestimmten staatlichen Gymnasium abgelegt werden musste. 1922 in Belecke gegründet, hatte das Studienheim in den wenigen Jahren seines Bestehens einen erstaunlichen Bekanntheitsgrad in der katholischen Bevölkerung Deutschlands erlangt. Neben Inseraten in der katholischen Presse informierte seit 1925 eine Hauszeitschrift mit dem Titel „Im Heerbann Christi“ über das Werk und warb gleichzeitig um Förderer und Schüler. Interessenten und Studienbewerber kamen aus allen Teilen des Reichsgebietes. 1928 konnte in Bad Driburg, dem Geburtsort des Gründers, ein Neubau auf eigenem Grund und Boden eingeweiht werden. Hierhin verlegte Zimmermann die Mittel- und die Oberstufenklassen, während die Eingangsklassen vorerst noch in Belecke blieben. Die hausinterne Schulstatistik verzeichnete zum Beginn des Schuljahres 1928/29 in Bad Driburg 163 Schüler und 40 in Belecke. Der starke Zustrom hielt noch bis in die Mitte der 1930er Jahre an. Von da ab führte die repressive Kirchenpolitik der nationalsozialistischen Machthaber zu sinkenden Neuzugängen.
Eduard Müller kam zu einem Zeitpunkt in das Studienheim, als ein Ende der Expansion sich noch nicht abzeichnete. Heute wüssten wir gern, wie er die Schulzeit erlebt hat. Mangels schriftlicher Quellen lässt sich dieser Lebensabschnitt aber leider nur umrisshaft skizzieren. Als Anfänger musste er in Belecke beginnen. Offensichtlich machte er so gute Fortschritte, dass er schon im Jahr darauf in die Mittelstufe aufsteigen und nach Bad Driburg wechseln durfte. Schon früh sind an ihm charakteristische Wesenszüge bemerkt worden. Der ehemalige Leiter des Belecker Studienheims, Konrektor Aloys Schnepper, beschrieb ihn posthum: „Gewissenhaft, fleißig, dabei tief fromm, war er ein Vorbild für seine Mitschüler.“ [2] Mit der Aufnahme war Müller in eine Hausgemeinschaft eingebunden, die in abgewandelter Form dem benediktinischen Grundsatz von Gebet und Arbeit folgte („ora et labora“). Da das Heim weitgehend Selbstversorgung betrieb und viele handwerkliche Verrichtungen in Eigenregie ausgeführt wurden, war „Arbeit“ sehr praktisch gemeint und beschränkte sich keineswegs auf den Schulbetrieb. So wird auch der Tischlergeselle Eduard Müller sein fachspezifisches Können und Wissen in das gemeinsame Werk eingebracht haben.
Nicht die Schule, sondern die Finanzierung des Studiums bereitete ihm und seinen Förderern von Anfang an große Sorgen. Die von einem Geistlichen organisierten Patenschaften in der Heimatgemeinde reichten nur zu oft nicht aus. Zahlungsrückstände brachten Müller wiederholt in eine schwierige Lage der Hausleitung gegenüber. Obwohl der Vereinszweck ausdrücklich auch eine finanzielle Förderung bedürftiger Schüler vorsah, [3] scheint Rektor Zimmermann, dem es einst ähnlich ergangen ist, in mittellosen Schülern eine nach Möglichkeit zu vermeidende Belastung gesehen zu haben, da er durch die verschiedenen Schulprojekte in Belecke, Aschaffenburg und Bad Driburg ständig selbst mit Finanzierungsengpässen zu kämpfen hatte. Für Müller sprach jedoch, dass seine schulischen Leistungen und auch seine religiöse Haltung ihn als förderungswürdig auswiesen. Darüber konnte Zimmermann sich nicht hinwegsetzen.
So sehr die Abhängigkeit von fremder Hilfe ihn auch bedrückte, seine Leistungsfähigkeit und sein Selbstbewusstsein haben darunter nicht gelitten. Abgesehen davon, dass es unter den gegebenen Umständen für ihn keine andere Möglichkeit gab, zum Abitur zu gelangen, dürften die positiven Erfahrungen überwogen haben. Die auf geistliche Berufungen ausgerichtete Spiritualität des Hauses, die große Schar gleichgesinnter Mitschüler und nicht zuletzt das Beispiel der aus dem Studienheim hervorgegangenen Priester werden ihn in seinem Berufswunsch bestärkt haben. Diese Erfahrungen dürften ihn angespornt haben, die Schulzeit so schnell wie nur eben möglich hinter sich zu bringen. Dank einer guten Auffassungsgabe und eines starken Willens schaffte er es tatsächlich in viereinhalb Jahren. Müller bestand Ostern 1935 zusammen mit 25 Mitschülern vor einer Prüfungskommission des Gymnasiums Paulinum in Münster die Reifeprüfung mit der Gesamtnote „gut“. Von der Leitung des Studienheims erhielt er ein Führungszeugnis, das er zur Vorlage beim Bischof von Osnabrück benötigte, um unter die Theologiestudenten des Bistums aufgenommen zu werden. Konrektor Johannes Kley empfahl den scheidenden Absolventen mit den Worten:
„Herr Eduard Müller aus Neumünster […] ist ein zielbewusster, begabter und strebsamer junger Mann. Infolge seiner Begabung konnte er eine Klasse überspringen und ist trotzdem der Beste seiner Klasse. Im religiösen Leben war er sehr eifrig, vor allem im Empfang der hl. Sakramente. Ich kann ihn in jeder Hinsicht empfehlen und wünsche ihm das Beste für seine Zukunft.“ [4]
Mit diesen Dokumenten ausgestattet, verließ Müller Ende März 1935 Bad Driburg, um an der Universität Münster Theologie zu studieren. Er verließ einen Ort, um den die Wogen gewandelter Zeitverhältnisse brandeten, fernab von dem, was in der Politik und in der Gesellschaft vor sich ging.
Studium unter einer Diktatur
Von dem politischen Wandel, der in Deutschland 1933 durch die Ernennung des NSDAP-Vorsitzenden Hitler zum Reichskanzler eingetreten war, hatte Müller in Bad Driburg nur wenig gespürt. In Münster stellte sich hingegen die Lage ganz anders dar. Die alte Bischofsstadt war damals auch Sitz des Oberpräsidenten der Provinz Westfalen und der Gauleitung des NSDAP-Gaues Westfalen-Nord. Als einzige große gesellschaftliche Institution hatte die katholische Kirche dem Druck zur politischen Gleichschaltung widerstanden. Um den Widerstand zu brechen, schlugen Staat und Partei 1935 einen härteren Kurs ein. Verordnungen und Gesetze wie das Heimtückegesetz suchten die Bewegungsfreiheit der Kirche einzuschränken. Alle diese Maßnahmen zielten darauf ab, die Kirche ganz aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, Abwehr und Verteidigung zu kriminalisieren und Kritik zum Verstummen zubringen. Die Auseinandersetzungen nahmen in den folgenden Jahren immer mehr Formen eines offenen Kirchenkampfes an.
In einem solchen politischen Klima gehörte für einen jungen Mann viel Mut dazu, einen geistlichen Beruf anzustreben und daran festzuhalten. Die Anfeindungen und Gehässigkeiten, denen katholische Geistliche schutzlos ausgeliefert waren, brachten ihn dennoch nicht von seinem Berufsziel ab. Eine erste Vorstellung von der Härte der Auseinandersetzung erlebte er im Sommer 1935 in Münster. Bischof Clemens August Graf von Galen hatte den Oberpräsidenten aufgefordert, einen Redeauftritt von Rosenberg zu untersagen. Nun war Alfred Rosenberg nicht irgendwer. Der Chefredakteur des parteioffiziellen Blattes „Völkischer Beobachter“ und Verfasser des Buches „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ unterstand als „Beauftragter des Führers für die gesamte weltanschauliche Schulung der Partei“ unmittelbar Hitler. Mit seinem ungewöhnlichen Schritt hatte Bischof von Galen nicht nur Rosenberg und die Partei, sondern auch Hitler provoziert. Außer verbalen Attacken und Drohungen von seiten der NSDAP hatte der Vorfall für von Galen keine Folgen. Dem Theologiestudenten Müller prägte sich jedoch der Bischof als streitbarer Verteidiger des Glaubens und der Rechte der Kirche ein.
Abstoßend wirkten auf ihn die propagandistisch groß angelegten Kampagnen der gleichgeschalteten Medien über Devisen- und Sittlichkeitsvergehen von Priestern. Unentschuldbare Einzelfälle wurden in verleumderischer Absicht aufgebauscht, um den ganzen Klerus als demoralisiert und kriminell hinzustellen.
Einer ständigen öffentlichen Diffamierung ausgesetzt, empfanden die deutschen Katholiken die Veröffentlichung der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ wie einen Befreiungsschlag aus Rom, auf den Episkopat, Klerus und Kirchenvolk schon lange gewartet hatten. Darin forderte Papst Pius XI. nicht nur die Freiheit der Kirche ein, wie sie im Reichskonkordat garantiert worden war, sondern verurteilte die nationalsozialistische Weltanschauung als Irrlehre:
„Wer die Rasse oder das Volk oder den Staat oder die Staatsform, die Träger der Staatsgewalt oder andere Grundwerte menschlicher Gemeinschaftsgestaltung […] aus ihrer irdischen Wertskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und fälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge. Ein solcher ist weit von wahrem Gottesglauben und einer solchem Glauben entsprechenden Lebensauffassung entfernt.“ [5]
Ohne dass die NSDAP oder Hitler genannt wurden, war jedem Leser klar, wer gemeint war. Die Wirkung war ungeheuer. Die NS-Machthaber reagierten sofort. Druck und Verbreitung der Enzyklika wurden verboten und sämtliche erreichbare Exemplare beschlagnahmt. Druckereien, die den Text gedruckt hatten, wie Regensberg in Münster und Obermeier in Osnabrück, wurden enteignet. Angesichts der Zwangsmaßnahmen gegen Geistliche und Laien, welche das Rundschreiben ungeachtet des Verbots verbreiteten ist Müller gewissermaßen handgreiflich bewusst geworden, was ihn als Priester in ähnlichen Situationen erwarten würde. Von Zeitzeugen verbürgt ist ein Ausspruch von ihm, den er noch vor seiner Weihe getan hat:
„Ich werde bald mit der Gestapo Bekanntschaft machen, denn ich werde mich durch nichts von meiner Pflicht abwendig machen lassen. Mein Weg geht bestimmt zum KZ.“ [6]
Eduard Müller schloss das Studium im Wintersemester 1938/39 ab. An dem Berufsziel hielt er unbeirrt fest und ließ sich von den antikirchlichen Anfeindungen nicht einschüchtern. Im März 1939 wurde er in das Priesterseminar zu Osnabrück aufgenommen.
Vikar in Lübeck
Die Ausbildung im Seminar wurde überschattet durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939. Als Priesteramtskandidat blieb er von einer Einberufung zur Wehrmacht verschont. Von folgenschwerer Bedeutung sollten dagegen für ihn wie für viele andere Strafbestimmungen werden, welche die Reichsregierung in den ersten Kriegstagen auf dem Verordnungswege erließ. Bereits im August 1938 war die Kriegssonderstrafrechtsverordnung ergangen. Sie trat mit dem Kriegsbeginn in Kraft und führte als neuen Straftatbestand „Zersetzung der Wehrkraft“ ein. [7] Am 1. September 1939 erging die „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“, die „das absichtliche Abhören ausländischer Sender“ und die Verbreitung dieser Nachrichten unter Strafe stellte. [8] Als Höchststrafmaße sahen beide Verordnungen Zuchthaus und „in besonders schweren Fällen“ die Todesstrafe vor. Bei Wehrkraftzersetzung konnte „in minder schweren Fällen“ auf Gefängnis erkannt werden.
Müllers lang gehegter Berufswunsch ging im Sommer 1940 in Erfüllung. Am 25. Juli 1940 empfing er im Dom zu Osnabrück durch Bischof Wilhelm Berning die Priesterweihe. Einige Wochen später trat er seinen Dienst als Seelsorger mit der Amtsbezeichnung Adjunkt in der Herz-Jesu-Pfarrei in Lübeck an. Dort begegnete er den Kaplänen Johannes Prassek und Hermann Lange.
Müller kannte Diasporaverhältnisse von Kindheit auf und arbeitete sich verhältnismäßig schnell ein. Mit besonderer Freude widmete er sich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Dem ehemaligen Handwerksgesellen oblag außerdem die Betreuung der Kolpingbrüder. Der Krieg stellte jedoch neue Anforderungen an die Seelsorge. Soldaten, Verwundete, Angehörige von Gefallenen, Ausgebombte, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter aus den von Deutschland besetzten Staaten konfrontierten den jungen Priester mit Realitäten, die ihm bis dahin fremd geblieben waren. Weder ging die seelische Not der dem Kriegsgeschehen ausgelieferten Menschen spurlos an ihm vorüber, noch ließ die politische Entwicklung in Deutschland ihn gleichgültig. Priester waren besonders gefährdet.
Als Vertrauenspersonen durften sie sich Gesprächen und Ratsuchenden nicht verweigern, andererseits gingen sie das Risiko ein, dass ihr Vertrauen missbraucht werden konnte. Größte Vorsicht und Zurückhaltung waren bei politischen Themen geboten. Selbst Gespräche unter vier Augen sind Geistlichen zum Verhängnis geworden. Denunzianten galten bei der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) und vor den Sondergerichten immer als glaubwürdiger als die denunzierten Personen.
In Lübeck bewegten sich die Priester geradezu im Blickfeld der Gestapo, die ausgerechnet neben dem Kolpinghaus eine Dienststelle eingerichtet hatte. Den Beamten entging nicht, dass Personen aller Altersstufen dort Haus verkehrten. Argwohn erregte vor allem die Teilnahme von Soldaten an den Glaubensstunden für Männer. Ein Spitzel, der sich als angehender Konvertit ausgab, erschlich sich das Vertrauen Prasseks und versorgte die Gestapo mit Informationen aus den Männerrunden. Erst im Gerichtssaal ist den Geistlichen bewusst geworden, dass sie Opfer eines hinterhältigen Vorgehens geworden sind, als sie in dem vermeintlichen Konvertiten einen Zeugen der Anklage erkannten.
In den Zusammenkünften wurde offen gesprochen. Neben Glaubensfragen sind auch aktuelle politische Themen zur Sprache gekommen. Ohne Zweifel sind kritische Worte gefallen, zum Krieg, zur deutschen Besatzungspolitik in Osteuropa, zur Unterdrückung der Kirche in Polen, zur Behandlung der Zwangsarbeiter und der Verfolgung der Juden, – aus der Sicht regimetreuer Funktionäre und Sympathisanten höchst unerwünschte Themen. Die Teilnehmer verstanden sich dennoch nicht als Mitglieder einer aktiven Widerstandsgruppe. Weder gab es dahingehende Überlegungen und Pläne, noch wurden irgendwelche Aktionen vorbereitet. Mit der Weitergabe abgehörter Nachrichten des britischen Rundfunks und der Vervielfältigung britischer Flugblätter setzten sich die Geistlichen allerdings einem solchen Verdacht aus.
Am weitesten wagte sich Kaplan Prassek vor, der kein Blatt vor den Mund nahm und deshalb von Gemeindemitgliedern öfter gewarnt worden ist. Ihn verbanden freundschaftliche Beziehungen mit dem evangelischen Pastor Karl Friedrich Stellbrink, der sich vom NSDAP-Mitglied zum kompromisslosen Gegner des Nationalsozialismus gewandelt hatte. Den Stein ins Rollen brachte eine Predigt des Pastors am Palmsonntag 1942, in der unter dem Eindruck des Luftangriffes in der Nacht zuvor die Worte fielen: „Gott hat mit mächtiger Sprache geredet. Die Lübecker werden wieder lernen zu beten.“ [9]
Wie ein Lauffeuer ging die Nachricht durch die Stadt, Pastor Stellbrink habe den Fliegerangriff „ein Gottesgericht“ genannt. Die Denunziation folgte auf dem Fuße und führte eine Woche darauf zu seiner Verhaftung durch die Gestapo. Bei den Ermittlungen wurden seine Kontakte zu den katholischen Geistlichen aufgedeckt und zogen auch deren Verhaftung nach sich.
Müller wurde als Letzter am 22. Juni 1942 festgenommen. Erst mit einer Verzögerung von drei Monaten erging am 29. September 1942 der richterliche Haftbefehl. Mitangeklagt wurden auch 18 Laien. Alle wurden beschuldigt
„zu Lübeck in den Jahren 1940, 1941 und 1942 gemeinschaftlich ein hochverräterisches Unternehmen verbreitet zu haben, indem sie eine Organisation schufen oder daran teilnahmen, um durch Beeinflussung der Massen mittels Herstellung oder Verbreitung von Schriften (angeblichen Verlautbarungen katholischer Bischöfe von staatsabträglichen Charakter) und einer ebenfalls staatsabträglichen Schrift, die sich als die Programmpunkte einer angeblichen Bewegung ‘Deutsche Nationalkirche’ darstellt, Angehörige der Wehrmacht während des gegenwärtigen Krieges um das Dasein des deutschen Volkes in ihrem Kampfwillen zu schwächen und den britischen Feind durch Verbreitung von Abschriften seiner Flugblattpropaganda in seinem Kampf gegen den inneren Bestand des Deutschen Reiches zu unterstützen.“ [10]
Der Text trägt ganz die Handschrift der Gestapo. Maßlose Übertreibungen, Tatsachenverdrehungen und Unterstellungen sowie die Diktion lassen die Tendenz erkennen. „Staatsabträglich“ oder „staatsfeindlich“ waren ständig wiederkehrende stereotype Begründungen, mit denen die Gestapo willkürlich erhobene Anklagen und Verhaftungen zu rechtfertigen suchte. Die zwanglos stattfindenden Gruppenabende wurden als konspirative Zusammenkünfte mit dem Ziel eines politischen Umsturzes hingestellt. Im Grunde stimmte nichts davon.
Die Anschuldigungen verhießen dennoch nichts Gutes. Insbesondere der Vorwurf hochverräterischer Betätigungen gab zu ernster Besorgnis Anlass. Entgegen der meistens geübten Praxis, missliebige Geistliche in ein Konzentrationslager einzuweisen, strebte die Gestapo im vorliegenden Fall einen Prozess an. Die Eröffnung eines Gerichtsverfahrens gegen Geistliche bedurfte der Zustimmung des Reichsjustizministers. Thierack, seit 1942 im Amt und zuvor Präsident des Volksgerichtshofes, erhob keine Bedenken. Welches Gewicht dem Verfahren beigemessen wurde, erhellt die Tatsache, dass er Hitler unterrichtete:
„Drei katholische Geistliche haben in Lübeck unter dem Vorwand religiöser Betreuung Gruppen gebildet, in denen sie bis 1942 gegen den nationalsozialistischen Staat gehetzt haben. Neben von englischen Fliegern abgeworfenen Predigten des Bischofs Graf von Galen und zahlreichen anderen äußerst gehässigen Hetzschriften und –Nachrichten haben sie die Behauptung verbreitet, schwerverwundete deutsche Soldaten und Invaliden des Krieges und der Arbeit würden in den Lazaretten getötet. Die 50 Angehörigen der Gruppen, die zur Hälfte Soldaten sind, wurden aufgefordert, die Hetzschriften an der Front und in der Heimat zu verteilen. Das Strafverfahren wird vor dem Volksgerichtshof durchgeführt werden.“ [11]
Die Geistlichen ahnten nicht, dass eine Vorentscheidung über sie bereits gefallen war. Nunmehr stand fest, dass sie wegen Hochverrat angeklagt und verurteilt werden sollten. Der im Jahre 1934 errichtete Volksgerichtshof entschied „in erster und letzter Instanz“ in Hoch- und Landesverratssachen. [12] Gegen seine Entscheidungen konnten keine Rechtsmittel eingelegt werden. Eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Urteile und des Verfahrens war damit ausgeschlossen. Als Anklagebehörde fungierte der Oberreichsanwalt. In dessen Händen lag vorerst das Schicksal der Geistlichen.
Für den Priester Eduard Müller hatte seit seiner Verhaftung eine Geist und Körper zermürbende Zeit ungewissen Wartens begonnen. Wie erträgt ein Mensch, der sich unschuldig der Freiheit beraubt sieht, eine nicht endende Isolationshaft? Eine Antwort auf die Frage geben verstreute Hinweise in seinen Briefen. In der Unwirtlichkeit der Gefängniszelle geschrieben, erlauben diese Selbstzeugnisse einen Blick in seine Gemütsverfassung. Anfangs überwog noch die Hoffnung auf ein baldiges Ende:
„Mit ganzer Innigkeit des Herzens hänge ich an meinem heiligen Beruf und möchte wirken für Christus. Ich möchte als sein Diener und Werkzeug das Gottesreich hineintragen in die Welt, in die Menschen. Und darum warte ich mit größter Sehnsucht auf die Stunde der Freiheit.“ [13]
Das Verlangen überkommt ihn jeden Tag von neuem, wenn er das Glockengeläut der Herz-Jesu-Kirche hört. Als einzige Lektüre waren den Geistlichen das Brevier und das Neue Testament gestattet. Noch nie zuvor hat Müller die Evangelien und die Apostelbriefe so intensiv gelesen. „Mit tiefem Verstehen“ liest er jetzt jene Stellen, in denen der Apostel Paulus die Verfolgung der Glaubenszeugen beschreibt. [14] Sein persönliches Schicksal spiegelt sich darin wider.
Zu den Bosheiten der Gestapo gehörte es, Briefe des Bischofs an die Geistlichen zurückhalten, so dass sie sich von ihrem Oberhirten verlassen fühlten. Am 25. Oktober 1942 antwortet er hocherfreut auf einen Brief, der „zwei Monate unterwegs“ war, bis er ihm ausgehändigt wurde. Es bedrückt ihn sehr, dass er nicht aussprechen darf, was er mitteilen möchte:
„Leider ist es mir nicht vergönnt, Euer Exzellenz meine ganze Sachlage vorzutragen. Jetzt habe ich nur den großen Wunsch, möglichst bald wieder am Altar stehen und meinem von mir so heiß geliebten heiligen Berufe wieder nachgehen zu dürfen.“
Vom Bischof erhofft er sich Hilfe in seiner Not. [15] Ganz auf sich zurückgeworfen, überwältigen ihn von Zeit zu Zeit Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit. Wie ihm bisweilen zu Mute ist, umschreibt er nur in Andeutungen. Zu deutlich durfte er ohnehin nicht werden, weil sonst die Zensur eingriff. Er zählt die Tage. Am Ende des Jahres sind es 182 Tage: „Eine lange Zeit voll bitterer Stunden!“ [16] Mit der Welt außerhalb der Gefängnismauern verbindet ihn eine Birke, die er von seinem Zellenfenster sieht und deren Farbenpracht er im Herbst bewundert hat.
Eine seelsorgliche Betreuung wurde den Gefangenen wegen Verdunkelungsgefahr nicht gewährt. Es waren Frauen aus der Kirchengemeinde, die ihnen eine unverhoffte Freude bereiteten. Vom Wachpersonal geduldet, durften sie neben zusätzlicher Verpflegung und Wäsche den Geistlichen Hostien und Messwein bringen. Am ersten Fastensonntag 1943 feiert Müller in seiner Zelle Eucharistie. Überglücklich schreibt er an einen Freund:
„Vor mir liegt das Kreuz und das Bild, das das Antlitz vom Turiner Leichentuch darstellt. Gerade habe ich wieder das Größte und Schönste tun dürfen, was ein Mensch überhaupt tun kann: das heilige Opfer darzubringen […] nicht mit größter Feierlichkeit, sondern ganz schlicht und einfach hinter Gittern.“ [17]
Wie die wenigen Zitate erkennen lassen, spricht eine tiefe Religiosität aus den Briefen, die Müller aus der Haft geschrieben hat. Im Gebet gewinnt er die Kraft, Bitternis und Hoffnungslosigkeit zu überwinden und sich in das ihm auferlegte Schicksal zu fügen. Wie ein persönliches Vermächtnis aus der Bedrängnis jener Tage klingen die folgenden Worte:
„Wir wollen das Licht, das wir in uns tragen, leuchten und ausstrahlen lassen, damit auch die anderen eine Sehnsucht bekommen, dieses heilige Licht in sich tragen zu dürfen.“ [18]
Verurteilung durch den Volksgerichtshof
Es verging ein ganzes Jahr, bis es zur Verhandlung kam. Vom 22. bis zum 24. Juni 1943 tagte der 2. Senat des Volksgerichtshofes unter dem Vorsitz des Vizepräsidenten Crohne in Lübeck. Um das Schlimmste abzuwenden, suchte Bischof Berning ihn einige Tage vorher auf. Der Ausgang des Gespräches stimmte den Bischof zuversichtlich. Der Prozess gegen die katholischen Geistlichen und zwei Angestellte der Kirchengemeinde fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit am 22. und 23. Juni statt. Die Verfahren gegen Pastor Stellbrink und die anderen Angeklagten wurden gesondert geführt.
Da die Anklageschrift nicht erhalten ist, lässt sich der Verlauf nur anhand der Urteilsbegründung nachzeichnen. Nach außen hin sollte nicht der Anschein eines Prozesses gegen die katholische Kirche entstehen. Nicht ihres Glaubens oder ihres Amtes wegen, sondern wegen strafbarer Vergehen standen die Geistlichen vor Gericht. Die Verhandlung folgte der vom Haftbefehl vorgegebenen Linie, nämlich die Angeklagten hochverräterischer Betätigungen zu überführen. Ihnen wurden als Straftaten der Empfang und die Verbreitung ausländischer Rundfunknachrichten sowie die Verbreitung feindlicher Flugblattpropaganda vorgeworfen. Erschwerend kam hinzu, dass Kaplan Prassek einem Flugblatt mit Auszügen aus einer Predigt des Bischofs von Galen einen Zusatz mit einer falschen Tatsachenbehauptung angefügt hatte, ohne deren Richtigkeit geprüft zu haben. Aus diesen sachlich zutreffenden Tatbeständen leiteten die Anklagebehörde und das Gericht Feindbegünstigung und Zersetzung der Wehrkraft ab.
Den Angeklagten wurde zugestanden, dass sie sich „für befugt und verpflichtet“ gehalten hatten, von ihnen als unberechtigt empfundene Eingriffe des Staates in Rechte der Kirche abzuwehren. Dennoch wurde ihnen die moralische Integrität abgesprochen:
„Die Angeklagten können sich nicht auf irgendwelche Beweggründe berufen, durch die ihre Tat menschlich und moralisch verständlich gemacht oder gar gerechtfertigt werden könnte. Die Angeklagten sind hartnäckige, fanatisierte und auch gänzlich unbelehrbare Hasser des nationalsozialistischen Staates.“
Aus der Urteilsschrift geht hervor, dass Eduard Müller sich als „unpolitisch eingestellt“ bezeichnet und die ihm zur Last gelegten Vergehen „in wesentlichen Punkten“ bestritten hat. Aus der Sicht der Verteidigung, die sogar erwogen hatte, auf Freispruch zu plädieren, war er am geringsten belastet. Sich auf die Vernehmungsprotokolle der Gestapo berufend, ließen die Richter Müllers Widerspruch ebenso wenig gelten wie die Einwände seiner Verteidiger. Ihm wurden Straftaten zugeschrieben, die er gar nicht begangen hatte. Trotzdem erkannte das Gericht auf Hochverrat.
Am 23. Juli 1943 erging das Urteil. Es lautete:
„Die Angeklagten Prassek, Lange und Müller werden wegen Zersetzung der Wehrkraft in Verbindung mit landesverräterischer Feindbegünstigung und Rundfunkverbrechens zum Tode verurteilt. Die bürgerlichen Ehrenrechte werden ihnen auf Lebenszeit aberkannt.“ [19]
Am ganzen Prozessverlauf wird deutlich, wie willkürlich das Gericht vorgegangen ist. Hochverrat lag nicht einmal im Sinne des damaligen Strafrechts vor. Keiner der Angeklagten besaß irgendwelche Geheiminformationen, keiner stand mit ausländischen Geheimdiensten in Verbindung. Das Gericht legte dagegen den Begriff extrem weit aus. Es unterließ hinsichtlich der Strafbemessung eine Abwägung der Straftaten nach der Schwere, welche die zugrunde gelegten Strafverordnungen durchaus erlaubten, und missachtete auf das gröbste den Grundsatz „In dubio pro reo“, nämlich im Zweifelsfalle zu Gunsten der Angeklagten zu entscheiden. Vieles spricht dafür, dass das Urteil von höchster Stelle angeordnet worden ist und schon vorher festgestanden hat.
Keiner der Angeklagten hatte mit einem solchen Urteil gerechnet. Eduard Müller nahm es gefasst entgegen. Ins Gefängnis zurückgebracht, schrieb er in sein Neues Testament: „Sit nomen domini benedictum! [Der Name des Herrn sei gepriesen!] – Heute wurde ich zum Tode verurteilt.“ [20] Vor der Vollstreckung konnte nur ein Gnadenerlass Hitlers die Verurteilten bewahren. Bischof Berning sprach deshalb persönlich im Reichsjustizministerium vor und übergab Thierack ein Gnadengesuch:
„So sehr auch die Handlungsweise der drei Geistlichen zu verurteilen ist, muß ich doch hervorheben, dass sie nicht aus Gehässigkeit gegen den nationalsozialistischen Staat gehandelt haben, sondern glaubten, ihre Kirche gegen Maßnahmen kirchenfeindlicher Kreise verteidigen zu müssen. Alle ihre strafbaren Handlungen geschahen nicht aus Gegensätzlichkeit zum Staate, sondern aus einem falsch verstandenen Pflichtgefühl, das unerlaubte Mittel anwandte. […] Ferner möchte ich betonen, dass aus den strafbaren Handlungen der Verurteilten eine tatsächliche Zersetzung der Wehrkraft, die die Strafe des Todes zur Folge haben müsste, nicht stattgefunden hat.“ [21]
Bernings Argumentation ist höchst aufschlussreich. Er richtete das Gesuch zwar an Thierack, aber mit der Bitte, es Hitler vorzulegen. Im Umgang mit Regierungsstellen gut vertraut, war er streng darauf bedacht, nicht den Eindruck einer kritischen Stellungnahme zu erwecken. Er bestritt weder die Rechtmäßigkeit des Urteils noch die Strafbarkeit der Handlungen. Um die Verurteilten zu entlasten, rückte er ihren Idealismus und ihre Staatstreue in den Vordergrund. Nicht Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Staat, sondern ein falsch verstandenes Pflichtgefühl habe sie geleitet. Ohne ihr Verhalten zu billigen, nahm er sie in Schutz. Am Ende des Briefes bezog er doch noch Stellung zum Urteil, indem er geltend machte, dass eine Wehrkraftzersetzung, wie der Gerichtshof sie unterstellt habe, nicht in einem einzigen Fall vorgekommen sei.
Ob Hitler das Gesuch wirklich zur Kenntnis genommen hat, ist nicht bekannt. Bernings Hoffnung auf eine Begnadigung der Verurteilten sollte sich als Illusion erweisen. Von dem Berliner Bischof Graf von Preysing gebeten, verwandte sich auch Papst Pius XII. für die Geistlichen. Am 5. November 1943 erhielt der Apostolische Nuntius in Berlin den Auftrag, sich umgehend um einen Gnadenerlass bzw. die Umwandlung der Todesstrafe in eine Freiheitsstrafe zu bemühen. [22] Wegen der plötzlichen Vollstreckung des Urteils kam die Intervention des Papstes zu spät.
Im Angesicht des Todes
Die letzten Monate ihres Lebens verbrachten die Geistlichen in der Hamburger Strafanstalt am Holstenglacis. Dort besuchte sie am 6. Juli 1943 Bischof Berning, der zuvor „besonders triftige Gründe“ angeben musste, um vom Oberreichsanwalt eine Besuchsgenehmigung zu erhalten. [23] Von Pfarrer Behnen, dem Anstaltsgeistlichen, begleitet, suchte Berning jeden in seiner Zelle auf. Über die Begegnung mit den Verurteilten gibt ein Brief des Bischofs an die Eltern von Kaplan Lange Aufschluss: „Die Stunde, die ich bei meinen drei Priestersöhnen zubrachte, war eine der größten und ergreifendsten in meinem Bischofsleben.“ [24]
Die Unterbringung in dem Hamburger Gefängnis brachte für die Geistlichen in einer Hinsicht eine wesentliche Verbesserung ihrer Lage. Ihre Bitte um eine seelsorgliche Betreuung fand diesmal Gehör. Die Leitung der Anstalt zeigte sich erstaunlich entgegenkommend, indem sie Pfarrer Behnen weitgehend freie Hand ließ. Auf dessen Vermittlung durften sie in der Kapelle des Gefängnisses mehrmals die Eucharistie feiern.
Aufkommende Hoffnung, dass sich vielleicht eine Wende zum Guten anbahne, wurde jäh erstickt, als ihnen am 10. November 1943 eröffnet wurde, ihre Hinrichtung erfolge noch am selben Tage. Noch einmal bäumte sich der Lebenswille gegen das Unabwendbare auf. In den verbleibenden Stunden schrieb Müller Abschiedsbriefe an seine Schwester Elisabeth und an Bischof Berning. Darin findet sich kein Wort der Bitterkeit, kein Wort der Klage, kein Wort der Verzweiflung. Geschrieben im Angesicht des Todes, sind seine letzten Briefe erschütternde Dokumente christlicher Lebenshaltung und menschlicher Größe:
„Und nun wollen wir den – der menschlichen Natur nach – schweren Weg gehen, der uns hinführen soll zu Ihm, dem wir als Priester gedient haben.“ [25]
Nach dem Zeugnis des Anstaltsgeistlichen ist Eduard Müller gefasst und in aufrechter Haltung in den Tod gegangen. Er starb als Erster um 18.20 Uhr im Alter von 32 Jahren unter dem Fallbeil. Ihm folgten jeweils im Abstand von drei Minuten die Kapläne Prassek und Lange und als Letzter Pastor Stellbrink.
Bischof Berning erfuhr von der Hinrichtung drei Tage später am 13. November. Er hatte die Hoffnung auf eine Begnadigung nicht aufgegeben, umso niederschmetternder war für ihn die Todesnachricht. Als Preußischer Staatsrat, in den er 1933 von Göring berufen worden war, besaß er in Regierungskreisen zwar immer noch einen gewissen Einfluss, aber der Verlauf des Krieges im Jahre 1943 drängte bis dahin geübte Rücksichtnahmen in den Hintergrund. Das Jahr, das mit dem Menetekel von Stalingrad begonnen hatte, brachte die Wende des Krieges. Im November des Jahres befand sich die Wehrmacht an allen Fronten in der Defensive. Die Aussichten auf einen Sieg schwanden dahin. Hitlers Imperium begann zu zerbrechen. Im Zeichen des von Goebbels propagierten totalen Krieges gab es keinen Raum mehr für Gnadenerweise.
Vergeblich bemühte sich der Bischof um eine Freigabe des Leichnams. „Aus sicherheitspolizeilichen Gründen“ wurde sie vom Reichssicherheitshauptamt verweigert. Müllers sterbliche Hülle wurde im Krematorium des Konzentrationslagers Neuengamme bei Hamburg eingeäschert. Die in Aussicht gestellte Beisetzung „im Urnenhain“ von Neuengamme hat nicht stattgefunden, weil es eine solche Grabstätte dort nie gegeben hat. Eduard Müller teilte im Tod das Los all jener, deren irdische Spuren ausgelöscht werden sollten.
Hoffnung auf eine Seligsprechung
„Vergesst mich nicht!“ [26] In seinen Abschiedsbriefen bittet Eduard Müller die Empfänger, ihn in Erinnerung zu behalten. Die Lübecker Katholiken haben ihre Märtyrer nicht vergessen. Seit 1944 wird jährlich an ihrem Todestag mit Gottesdiensten und anderen Veranstaltungen der Ermordeten gedacht. Seit dem 40. Jahrestag der Hinrichtung nimmt sich der „Arbeitskreis 10. November“ in besonderer Weise des Gedenkens an. Neuere Forschungen haben zur Entdeckung der Testamente und als verschollen geglaubter Abschiedsbriefe geführt. In der Herz-Jesu-Kirche ist die Krypta zu einer Gedenkkapelle umgestaltet worden. Die bisherige Gedenkpraxis erhielt 2003 durch die Anregung des Hamburger Erzbischofs Werner Thissen, die Märtyrer selig zu sprechen, eine neue Perspektive. 2004 hat das Erzbistum an die zuständige vatikanische Kongregation eine offizielle Bittschrift um eine Seligsprechung gerichtet. Seit 2005 liegen der Kongregation die Prozessakten vor.
Auch das Studienheim St. Klemens, das heute seinen Sitz in Paderborn hat, pflegt seit der Wiedererrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg das Gedenken an den ehemaligen Schüler Eduard Müller. Auf Initiative des Fördervereins St. Klemens trägt in Bad Driburg der alte Weg vom Studienheim über den früheren Sportplatz zur Waldkapelle seinen Namen. Die Enthüllung des Straßenschildes haben am 29. Januar 2009 Bürgermeister Burkhard Deppe und Weihbischof Hubert Berenbrinker aus Paderborn vorgenommen. In Verbindung mit der Namensgebung wurde im Foyer des Rathauses eine Ausstellung über Eduard Müller gezeigt.
Seligsprechungsverfahren sind in der Regel mit umfangreichen und zeitaufwendigen Recherchen verbundene Unternehmungen. Voraussagen darüber, wann mit einem Abschluss zu rechnen ist, lassen sich daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht machen. Vielleicht weiß man 2011 mehr, wenn der 100. Jahrestag seines Geburtstages ansteht. [27]
[1] Marion Ewers: Weg erinnert jetzt an die Märtyrer, in: Westfalen-Blatt (Brakel/Bad Driburg) vom 3. 2. 2009.
[2] A. Schnepper an Else Pelke, in: Brief vom 13. 4. 1949, zitiert nach: Else Pelke, Der Lübecker Christenprozeß 1943, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1961, S. 142.
[3] Satzung des Clemens-Maria-Hofbauer-Hilfswerkes e.V. vom 10. 2. 1922, in: Erzbistumsarchiv Paderborn, Acta generalia, Bestand XXI, 6.
[4] Studienheim St. Klemens Bad Driburg, Führungszeugnis für Eduard Müller vom 21. 3. 1935, in: Bistumsarchiv Osnabrück, Bestand: Lübecker Märtyrer, Akte Eduard Müller.
[5] Papst Pius XI., Enzyklika „Mit brennender Sorge“, Rom 1937.
[6] Else Pelke, S. 154.
[7] Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege udn bei besonderem Einsatz vom 17. 8. 1938, in: Reichsgesetzblatt [RGBl.] 1939 I, Nr. 147 vom 26. 8. 1939, S. 1455–1457.
[8] Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. 9. 1939, in: RGBl. 1939 I, Nr. 169 vom 7. 9. 1939, S. 1683.
[9] Isabella Spolovjnak-Pridat und Helmut Siepenkort (Hg.), Ökumene im Widerstand. Der Lübecker Christenprozeß 1943, Schmidt-Römhild, Lübeck 2001, S. 13.
[10] Amtsgericht Lübeck, Haftbefehl vom 29. 9. 1942, in: Bistumsarchiv Osnabrück, Bestand: Lübecker Märtyrer, Akte Prozeß.
[11] RMJ Thierack an Hitler, Führerinformation Nr. 139 von 1942, in: Bistumsarchiv Osnabrück, Bestand: Lübecker Märtyrer, Akte Prozeß
[12] Gesetz zur Änderung der Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24. 4. 1943, in: RGBl. 1934 I, Nr. 47. S. 345f.
[13] Eduard Müller an Frau Kassmann, Brief vom 2. Adventssonntag 1942, zitiert nach: Else Pelke, S. 147.
[14] Eduard Müller an Franz von de Berg, Brief vom 14. 3. 1943, zitiert nach: Else Pelke, S. 155.
[15] Eduard Müller an Bischof Berning, Brief vom 25. 10. 1942, in: Bistumsarchiv Osnabrück, Bestand: Lübecker Märtyrer, Akte Eduard Müller.
[16] Eduard Müller an Franz von de Berg, Brief vom 31. 1. 1943, zitiert nach: Else Pelke, S. 153.
[17] Eduard Müller an Franz von de Berg, Brief vom 1. Fastensonntag 1943, zitiert nach: Else Pelke, S. 154f.
[18] Eduard Müller an Franz von de Berg, Brief vom 14. 3. 1943, zitiert nach: Else Pelke, S. 148.
[19] Urteilsschrift des Volksgerichtshofs vom 23. 7. 1943, in: Bistumsarchiv Osnabrück, Bestand: Lübecker Märtyrer, Akte Prozeß.
[20] Original im Pfarrarchiv Herz Jesu, Lübeck.
[21] Bischof Berning an RMJ Thierack, Brief vom 26. 6. 1943, Entwurf, in: Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933–1945, Bd. 6: 1943–1945, Nr. 852, S. 101.
[22] Kardinal Maglione an Nuntius Orsenigo, Telegramm vom 5. 11. 1943, in: Akten und Dokumente des Heiligen Stuhls zum Zweiten Weltkrieg, Bd. 9, Rom 1975, Nr. 410, S. 541.
[23] Oberreichsanwalt an Bischof Berning, Brief vom 2. 7. 1943, in: Bistumsarchiv Osnabrück, Bestand: Lübecker Märtyrer, Akte Prozeß.
[24] Bischof Berning an Christian Lange, Brief vom 6. 7. 1943, zitiert nach: Else Pelke, S. 71.
[25] Eduard Müller an Bischof Berning, Brief vom 10. 11. 1943, in: Bistumsarchiv Osnabrück, Bestand: Lübecker Märtyrer, Akte Eduard Müller.
[26] Eduard Müller an Schwester Guda, Brief vom 11. 7. 1943, zitiert nach: Else Pelke, S. 68.
[27] Die Seligsprechung fand am 25. Juni 2011 in Lübeck statt.