Predigt in der Lambertikirche in Münster
Clemens August Graf von Galen am 3. August 1941
Ich muß leider mitteilen, daß die Gestapo auch in dieser Woche ihren Vernichtungskampf gegen die katholischen Orden fortgesetzt hat. Am Mittwoch, dem 30. Juli, hat die Gestapo das Provinzialhaus der Schwestern Unserer Lieben Frau in Mülhausen, Kreis Kempen, das früher zum Bistum Münster gehörte, besetzt und für aufgehoben erklärt. Die Schwestern, von denen viele aus unserem Bistum stammen, wurden zum größten Teil ausgewiesen und mußten noch am gleichen Tage den Kreis verlassen. Nach glaubwürdigen Nachrichten ist am Donnerstag, dem 31. Juli, das Kloster der Missionare von Hiltrup in Hamm ebenfalls von der Gestapo besetzt und beschlagnahmt worden. Die dort weilenden Patres sind ausgewiesen.
Ich habe bereits am 13. Juli hier in der Lambertikirche nach der Vertreibung der Jesuiten und Missionsklarissen aus Münster öffentlich festgestellt: Keiner der Bewohner der Klöster ist eines Vergehens oder Verbrechens beschuldigt, vor Gericht angeklagt oder gar verurteilt. Wie ich höre, werden jetzt in Münster Gerüchte verbreitet, daß diese Ordensleute, insbesondere die Jesuiten, doch wegen gesetzwidriger Verfehlungen, ja sogar wegen Landesverrat angeklagt oder sogar überführt seien. Ich erkläre: Das ist eine gemeine Verleumdung deutscher Volksgenossen, unserer Brüder und Schwestern, die wir uns nicht gefallen lassen. Gegen einen Burschen, der vor Zeugen es wagte, derartiges zu behaupten, habe ich bereits Strafanzeige bei dem Herrn Oberstaatsanwalt erstattet. Ich spreche die Erwartung aus, daß der Mann schleunigst zur Verantwortung gezogen wird, und daß unsere Gerichte noch den Mut haben, Verleumder, die es wagen, unbescholtenen deutschen Volksgenossen, nachdem ihnen schon ihr Eigentum genommen wurde, auch noch die Ehre zu rauben, zur Verantwortung zu ziehen und zu bestrafen. Ich fordere alle meine Zuhörer, ja alle anständigen Mitbürger auf, von heute ab, falls in ihrer Gegenwart solche Anschuldigungen gegen die aus Münster ausgewiesenen Ordensleute ausgesprochen werden, sofort den Namen und die Wohnung des Anklägers und der etwa anwesenden Zeugen festzustellen. Ich hoffe, es gibt hier in Münster noch Männer, die den Mut haben, zur gerichtlichen Klarstellung solcher die Volksgemeinschaft vergiftender Beschuldigungen durch offenes Eintreten mit ihrer Person, ihrem Namen, nötigenfalls mit ihrem Eide mitzuwirken. Diese bitte ich, falls vor ihnen solche Beschuldigungen gegen unsere Ordensleute ausgesprochen werden, alsbald bei ihrem Pfarrer oder auch beim Bischöf lichen Generalvikariat das zu melden und zu Protokoll zu geben. Ich bin es der Ehre unserer Ordensleute, der Ehre unserer katholischen Kirche und auch der Ehre unseres deutschen Volkes und unserer Stadt Münster schuldig, daß ich durch Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft für die gerichtliche Klarstellung des Tatbestandes und für die Bestrafung gemeiner Verleumder unserer Ordensleute Sorge trage.
[Es folgte das Evangelium vom 9. Sonntag nach Pfingsten, Lk 19,41–47:]
In jener Zeit, als Jesus sich Jerusalem näherte und die Stadt sah, weinte Er über sie und sprach: „Wenn doch auch du es erkannt hättest, und zwar am diesem deinen Tage, was dir zum Frieden dient! Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen. Es werden Tage über dich kommen, da deine Feinde dich mit einem Walle umgeben, dich ringsum einschließen und von allen Seiten bedrängen. Sie werden dich samt deinen Kindern in deinen Mauern zu Boden schmettern und keinen Stein in dir auf dem andern lassen, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.“ Dann ging Er in den Tempel und trieb die Räuber und Verkäufer, die darin waren, hinaus und sprach zu ihnen: „Es steht geschrieben: Mein Haus ist ein Haus des Gebets, ihr aber habt es zu einer Räuberhöhle gemacht“, und Er lehrte täglich im Tempel.
Meine lieben Diözesanen! Eine erschütternde Begebenheit ist es, die das heutige Sonntagsevangelium berichtet. Jesus weint! Der Sohn Gottes weint! Wer weint, der leidet Schmerzen, Schmerzen am Leibe oder am Herzen. Jesus litt damals nicht dem Leibe nach und doch weinte er. Wie groß muß der Seelenschmerz, das Herzensweh dieses tapfersten der Männer gewesen sein, daß er weinte! Warum weinte er? Er weinte über Jerusalem, über die heilige, ihm so teuere Gottesstadt, die Hauptstadt seines Volkes. Er weinte über ihre Bewohner, seine Volksgenossen, weil sie nicht erkennen wollten, was allein die von seiner Allwissenheit vorausgesehenen, von seiner göttlichen Gerechtigkeit vorausbestimmten Strafgerichte abwenden könnte: „Wenn du es doch erkenntest, was dir zum Frieden dient!“ Warum erkennen es die Bewohner von Jerusalem nicht? Nicht lange vorher hat Jesus es ausgesprochen: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder versammeln, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt. Aber du hast nicht gewollt!“ (Luk 13,34).
Du hast nicht gewollt. Ich, dein König, dein Gott, ich wollte! Aber du hast nicht gewollt. Wie geborgen, wie behütet, wie beschützt ist das Küchlein unter den Fl&¨geln der Henne; sie wärmt es, sie nährt es, sie verteidigt es. So wollte ich dich beschützen, behüten, gegen jedes Ungemach verteidigen. Ich wollte! Du hast nicht gewollt!
Darum weint Jesus, darum weint dieser starke Mann, darum weint Gott. Ober die Torheit, über das Unrecht, über das Verbrechen des Nichtwollens. Und über das daraus entstehende Unheil, das seine Allwissenheit kommen sieht, das seine Gerechtigkeit verhängen muß, wenn der Mensch den Geboten Gottes, allen Mahnungen seines Gewissens, allen liebevollen Einladungen des göttlichen Freundes, des besten Vaters, sein Nichtwollen entgegensetzt: „Wenn du es doch erkenntest, noch heute, an diesem Tage, was dir zum Frieden dient! Aber du hast nicht gewollt!“ Es ist etwas Furchtbares, etwas unerhört Ungerechtes und Verderbenbringendes, wenn der Mensch seinen Willen gegen Gottes Willen stellt! Ich wollte! Du hast nicht gewollt! Darum weint Jesus über Jerusalem.
Andächtige Christen! In dem am 6. Juli dieses Jahres in allen katholischen Kirchen Deutschlands verlesenen gemeinsamen Hirtenbrief der deutschen Bischöfe vom 26. Juni 1941 heißt es unter anderem: „Gewiß gibt es nach der katholischen Sittenlehre positive Gebote, die nicht mehr verpflichten, wenn ihre Erfüllung mit allzu großen Schwierigkeiten verbunden wäre. Es gibt aber auch heilige Gewissensverpflichtungen, von denen niemand uns befreien kann, die wir erfüllen müssen, koste es, was es wolle, koste es uns selbst das Leben: Nie, unter keinen Umständen darf der Mensch außerhalb des Krieges und der gerechten Notwehr einen Unschuldigen töten.“ Ich hatte schon am 6. Juli Veranlassung, diesen Worten des gemeinsamen Hirtenbriefes folgende Erläuterung hinzuzufügen:
„Seit einigen Monaten hören wir Berichte, daß aus Heil- und Pflegeanstalten für Geisteskranke auf Anordnung von Berlin Pfleglinge, die schon länger krank sind und vielleicht unheilbar erscheinen, zwangsweise abgeführt werden. Regelmäßig erhalten dann die Angehörigen nach kurzer Zeit die Mitteilung, der Kranke sei verstorben, die Leiche sei verbrannt, die Asche könne abgeliefert werden. Allgemein herrscht der an Sicherheit grenzende Verdacht, daß diese zahlreichen unerwarteten Todesfälle von Geisteskranken nicht von selbst eintreten, sondern absichtlich herbeigeführt werden, daß man dabei jener Lehre folgt, die behauptet, man dürfe sogenanntes ‚lebensunwertes Leben‘ vernichten, also unschuldige Menschen töten, wenn man meint, ihr Leben sei für Volk und Staat nichts mehr wert. Eine furchtbare Lehre, die die Ermordung Unschuldiger rechtfertigen will, die die gewaltsame Tötung der nicht mehr arbeitsfähigen Invaliden, Krüppel, unheilbar Kranken, Altersschwachen grundsätzlich freigibt!“
Wie ich zuverlässig erfahren habe, werden jetzt auch in den Heil- und Pflegeanstalten der Provinz Westfalen Listen aufgestellt von solchen Pfleglingen, die als sogenannte ‚unproduktive‘Volksgenossen abtransportiert und in kurzer Zeit ums Leben gebracht werden sollen. Aus der Anstalt Marienthal bei Münster ist im Laufe dieser Woche der erste Transport abgegangen!
Deutsche Männer und Frauen! Noch hat Gesetzeskraft der § 211 des Reichsstrafgesetzbuches, der bestimmt: „Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird, wenn er die Tötung mit Überlegung ausgeführt hat, wegen Mordes mit dem Tode bestraft.“ Wohl um diejenigen, die jene armen Menschen, Angehörige unserer Familien, vors&¨tzlich töten, vor dieser gesetzlichen Bestrafung zu bewahren, werden die zur Tötung bestimmten Kranken aus der Heimat abtransportiert in eine entfernte Anstalt. Als Todesursache wird dann irgendeine Krankheit angegeben. Da die Leiche sofort verbrannt wird, können die Angehörigen und auch die Kriminalpolizei es hinterher nicht mehr feststellen, ob die Krankheit wirklich vorgelegen hat und welche Todesursache vorlag.
Es ist mir aber versichert worden, daß man im Reichsministerium des Innern und auf der Dienststelle des Reichsärzteführers Dr. Conti gar kein Hehl daraus mache, daß tatsächlich schon eine große Zahl von Geisteskranken in Deutschland vorsätzlich getötet worden ist und in Zukunft getötet werden soll.
Das Reichsstrafgesetzbuch bestimmt in § 139: „Wer von dem Vorhaben … eines Verbrechens wider das Leben … glaubhafte Kenntnis erhält und es unterläßt, der Behörde oder dem Bedrohten hiervon zur rechten Zeit Anzeige zu machen, wird … bestraft.“ Als ich von dem Vorhaben erfuhr, Kranke aus Marienthal abzutransportieren, um sie zu töten, habe ich am 28. Juli bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Münster und bei dem Herrn Polizeipräsidenten in Münster Anzeige erstattet durch eingeschriebenen Brief mit folgendem Wortlaut:
„Nach mir zugegangenen Nachrichten soll im Laufe dieser Woche (man spricht vom 31. Juli) eine große Anzahl Pfleglinge der Provinzialheilanstalt Marienthal bei Münster als sogenannte ‚unproduktive Volksgenossen‘ nach der Heilanstalt Eichberg überführt werden, um dann alsbald, wie es nach solchen Transporten aus anderen Heilanstalten nach allgemeiner Überzeugung geschehen ist, vorsätzlich getötet zu werden. Da ein derartiges Vorgehen nicht nur dem göttlichen und natürlichen Sittengesetz widerstreitet, sondern auch als Mord nach § 211 des Reichsstrafgesetzbuches mit dem Tode zu bestrafen ist, erstatte ich gemäß § 139 des Reichsstrafgesetzbuches pflichtgemäß Anzeige und bitte, die bedrohten Volksgenossen unverzüglich durch Vorgehen gegen die den Abtransport und die Ermordung beabsichtigenden Stellen zu schützen und mir von dem Veranlaßten Nachricht zu geben.“
Nachricht über ein Einschreiten der Staatsanwaltschaft oder der Polizei ist mir nicht zugegangen.
Ich hatte bereits am 26. Juli bei der Provinzialverwaltung der Provinz Westfalen, der die Anstalten unterstehen, der die Kranken zur Pflege und Heilung anvertraut sind, schriftlich ernstesten Einspruch erhoben. Es hat nichts genützt! Der erste Transport der schuldlos zum Tode Verurteilten ist von Marienthal abgegangen! Und aus der Heil- und Pflegeanstalt Warstein sind, wie ich höre, bereits 800 Kranke abtransportiert worden.
So müssen wir damit rechnen, daß die armen, wehrlosen Kranken über kurz oder lang umgebracht werden. Warum? Nicht weil sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben, nicht etwa, weil sie ihren Wärter oder Pfleger angegriffen haben, so daß diesem nichts anderes übrigblieb, als daß er zur Erhaltung des eigenen Lebens in gerechter Notwehr dem Angreifer mit Gewalt entgegentrat, Das sind Fälle, in denen neben der Tötung des bewaffneten Landesfeindes im gerechten Kriege Gewaltanwendung bis zur Tötung erlaubt und nicht selten geboten ist.
Nein, nicht aus solchen Gründen müssen jene unglücklichen Kranken sterben, sondern darum, weil sie nach dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten irgendeiner Kommission ‚lebensunwert‘geworden sind, weil sie nach diesem Gutachten zu den ‚unproduktiven‘ Volksgenossen gehören. Man urteilt: Sie können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das unheilbar lahm geworden ist, sie sind wie eine Kuh, die nicht mehr Milch gibt. Was tut man mit solch alter Maschine? Sie wird verschrottet. Was tut man mit einem lahmen Pferd, mit solch einem unproduktiven Stück Vieh?
Nein, ich will den Vergleich nicht bis zu Ende führen – so furchtbar seine Berechtigung ist und seine Leuchtkraft!
Es handelt sich hier ja nicht um Maschinen, es handelt sich nicht um Pferd oder Kuh, deren einzige Bestimmung ist, dem Menschen zu dienen, für den Menschen Güter zu produzieren! Man mag sie zerschlagen, man mag sie schlachten, sobald sie diese Bestimmung nicht mehr erfüllen. Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen. Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden?
Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, daß man den ‚unproduktiven‘ Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen töten darf, dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozeß ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als schwer Kriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren!
Wenn einmal zugegeben wird, daß Menschen das Recht haben, ‚unproduktive‘ Mitmenschen zu töten – und wenn es jetzt zunächst auch nur arme, wehrlose Geisteskranke trifft –, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den arbeitsunfähigen Krüppeln, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben. Dann braucht nur irgendein Geheimerlaß anzuordnen, daß das bei den Geisteskranken erprobte Verfahren auf andere ‚Unproduktive‘ auszudehnen ist, daß es auch bei den unheilbar Lungenkranken, bei den Altersschwachen, bei den Arbeitsinvaliden, bei den schwerkriegsverletzten Soldaten anzuwenden ist. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher. Irgendeine Kommission kann ihn auf die Liste der ‚Unproduktiven‘ setzen, die nach ihrem Urteil ‚lebensunwert‘ geworden sind. Und keine Polizei wird ihn schützen und kein Gericht seine Ermordung ahnden und den Mörder der verdienten Strafe übergeben! Wer kann dann noch Vertrauen haben zu einem Arzt? Vielleicht meldet er den Kranken als ‚unproduktiv‘ und erhält die Anweisung, ihn zu töten. Es ist nicht auszudenken, welche Verwilderung der Sitten, welch allgemeines gegenseitiges Mißtrauen bis in die Familien hineingetragen wird, wenn diese furchtbare Lehre geduldet, angenommen und befolgt wird. Wehe den Menschen, wehe unserem deutschen Volk, wenn das heilige Gottesgebot: „Du sollst nicht töten!“, das der Herr unter Donner und Blitz auf Sinai verkündet hat, das Gott unser Schöpfer, von Anfang an in das Gewissen der Menschen geschrieben hat, nicht nur übertreten wird, sondern wenn diese Übertretung sogar geduldet und ungestraft ausgeübt wird!
Ich will euch ein Beispiel sagen von dem, was jetzt geschieht. In Marienthal war ein Mann von etwa 55 Jahren, ein Bauer aus einer Landgemeinde des Münsterlandes – ich könnte euch den Namen nennen –, der seit einigen Jahren unter Geistesstörungen leidet und den man daher der Provinzial-Heil-und-Pflegeanstalt Marienthal zur Pflege anvertraut hat. Er war nicht richtig geisteskrank, er konnte Besuche empfangen und freute sich immer, so oft, seine Angehörigen kamen. Noch vor 14 Tagen hatte er Besuch von seiner Frau und von einem seiner Söhne, der als Soldat an der Front steht und Heimaturlaub hatte. Der Sohn hängt sehr an seinem kranken Vater. So war der Abschied schwer. Wer weiß, ob der Soldat wiederkommt, den Vater wiedersieht, denn er kann ja im Kampf für die Volksgenossen fallen. Der Sohn, der Soldat, wird den Vater wohl sicher auf Erden nicht wiedersehen, denn er ist seitdem auf die Liste der Unproduktiven gesetzt. Ein Verwandter, der den Vater in dieser Woche in Marienthal besuchen wollte, wurde abgewiesen mit der Auskunft, der Kranke sei auf Anordnung des Ministerrats für Landesverteidigung von hier abtransportiert. Wohin, könne nicht gesagt werden. Den Angehörigen werde in einigen Tagen Nachricht gegeben werden.
Wie wird diese Nachricht lauten? Wieder so, wie in anderen Fällen? Daß der Mann gestorben sei, daß die Leiche verbrannt sei, daß die Asche gegen Entrichtung einer Gebühr abgeliefert werden könne? Dann wird der Soldat, der im Felde steht und sein Leben für die deutschen Volksgenossen einsetzt, den Vater hier auf Erden nicht wiedersehen, weil deutsche Volksgenossen in der Heimat ihn ums Leben gebracht haben!
Die von mir ausgesprochenen Tatsachen stehen fest. Ich kann die Namen des kranken Mannes, seiner Frau, seines Sohnes, der Soldat ist, nennen und den Ort, wo sie wohnen. „Du sollst nicht töten!“ Gott hat dieses Gebot in das Gewissen der Menschen geschrieben, längst ehe ein Strafgesetzbuch den Mord mit Strafe bedrohte, längst ehe Staatsanwaltschaft und Gericht den Mord verfolgten und ahndeten. Kain, der seinen Bruder Abel erschlug, war ein Mörder, lange bevor es Staaten und Gerichte gab. Und er bekannte, gedrängt von der Anklage seines Gewissens: „Größer ist meine Missetat, als daß ich Verzeihung finden könnte! … jeder, der mich findet, wird mich, den Mörder töten (Gen 4,13).
„Du sollst nicht töten!“ Dieses Gebot Gottes, des einzigen Herrn, der das Recht hat, über Leben und Tod zu bestimmen, war von Anfang an in die Herzen der Menschen geschrieben, längst bevor Gott den Kindern Israels am Berge Sinai sein Sittengesetz mit jenen lapidaren, in Stein gehauenen kurzen Sätzen verkündet hat, die uns in der Heiligen Schrift aufgezeichnet sind, die wir als Kinder aus dem Katechismus auswendig gelernt haben.
„Ich bin der Herr, dein Gott!“ So hebt dieses unabänderliche Gesetz an. „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben!“ Der einzige, überweltliche, allmächtige, allwissende, unendlich heilige und gerechte Gott hat diese Gebote gegeben, unser Schöpfer und einstiger Richter! Aus Liebe zu uns hat er diese Gebote unserem Herzen eingeschrieben und sie uns verkündet; denn sie entsprechen dem Bedürfnis unserer von Gott geschaffenen Natur; sie sind die unabdingbaren Normen eines vernunftmäßigen, eines gottgefälligen, eines heilbringenden und heiligen Menschenlebens und Gemeinschaftslebens.
Gott, unser Vater, will mit diesen Geboten uns, seine Kinder, sammeln, wie die Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt. Wenn wir Menschen diesen Befehlen, diesen Einladungen, diesem Rufe Gottes folgen, dann sind wir behütet, beschützt, vor Unheil bewahrt, gegen das drohende Verderben verteidigt wie die Küchlein unter den Flügeln der Henne.
„Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie die Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt. Aber du hast nicht gewollt!“ Soll das aufs Neue wahr werden in unserem deutschen Vaterland, in unserer westfälischen Heimat, in unserer Stadt Münster? Wie steht es in Deutschland, wie steht es hier bei uns mit dem Gehorsam gegen die göttlichen Gebote?
Das achte Gebot: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben, du sollst nicht lügen!“ Wie oft wird es frech, auch öffentlich, verletzt!
Das siebente Gebot: „Du sollst nicht fremdes Gut dir aneignen!“ Wessen Eigentum ist noch sicher nach der willkürlichen und rücksichtslosen Enteignung des Eigentums unserer Brüder und Schwestern, die katholischen Orden angehören? Wessen Eigentum ist geschützt, wenn dieses widerrechtlich beschlagnahmte Eigentum nicht zurückerstattet wird?
Das sechste Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen! Denkt an die Anweisungen und Zusicherungen, die der berüchtigte Offene Brief des inzwischen verschwundenen Rudolf Heß, der in allen Zeitungen veröffentlicht wurde, &¨ber den freien Geschlechtsverkehr und die uneheliche Mutterschaft gegeben hat. Und was kann man sonst noch über diesen Punkt auch hier in Münster an Schamlosigkeit und Gemeinheit lesen und beobachten und erfahren! An welche Schamlosigkeit in der Kleidung hat die Jugend sich gewöhnen müssen. Vorbereitung späteren Ehebruchs! Denn es wird die Schamhaftigkeit zerstört, die Schutzmauer der Keuschheit.
Jetzt wird auch das fünfte Gebot: „Du sollst nicht töten!“ beiseitegesetzt und unter den Augen der zum Schutz der Rechtsordnung und des Lebens verpflichteten Stellen übertreten, da man es sich herausnimmt, unschuldige, wenn auch kranke Mitmenschen, vorsätzlich zu töten, nur weil sie ‘unproduktiv’ sind, keine Güter mehr produzieren können.
Wie steht es mit der Befolgung des vierten Gebotes, das Ehrfurcht und Gehorsam gegen die Eltern und Vorgesetzten fordert? Die Stellung der Autorität der Eltern ist schon weithin untergraben und wird mit all den Anforderungen, die gegen den Willen der Eltern der Jugend auferlegt werden, immer mehr erschüttert. Glaubt man, daß aufrichtige Ehrfurcht und gewissenhafter Gehorsam gegen die staatliche Obrigkeit erhalten bleiben, wenn man fortfährt, die Gebote der höchsten Obrigkeit, die Gebote Gottes, zu übertreten, wenn man sogar den Glauben an den einzig wahren, überweltlichen Gott, den Herrn des Himmels und der Erde, bekämpft, ja auszurotten versucht?
Die Befolgung der drei ersten Gebote ist ja schon lange in der Öffentlichkeit in Deutschland und auch in Münster weithin eingestellt. Von wie vielen wird der Sonntag nebst den Feiertagen entweiht und dem Dienste Gottes entzogen! Wie wird der Name Gottes mißbraucht, verunehrt und gelästert!
Und das erste Gebot: „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben!“ Statt des einzig wahren, ewigen Gottes macht man sich nach Gefallen eigene Götzen, um sie anzubeten: die Natur oder den Staat oder das Volk oder die Rasse. Und wie viele gibt es, deren Gott in Wirklichkeit nach dem Wort des heiligen Paulus der Bauch ist (Phil 3, 19), das eigene Wohlbefinden, dem sie alles, selbst Ehre und Gewissen opfern, der Sinnengenuß, der Geldrausch, der Machtrausch! Dann mag man es auch versuchen, sich selbst göttliche Befugnisse anzumaßen, sich zum Herrn zu machen über Leben und Tod der Mitmenschen.
Als Jesus nach Jerusalem kam und die Stadt sah, weinte er über sie und sprach: „Wenn du es doch erkenntest, noch heute, an diesem Tage, was dir zum Frieden dient! Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen. Siehe, es werden Tage über dich kommen, wo deine Feinde dich zu Boden schmettern werden, dich und deine Kinder, und in dir keinen Stein auf dem anderen lassen werden, weil du die Tage deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.“
Mit seinen leiblichen Augen schaute Jesus damals nur die Mauern und Türme der Stadt Jerusalem, aber göttliche Allwissenheit sah tiefer, erkannte, wie es innerlich mit der Stadt stand und mit ihren Bewohnern: Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder sammeln, wie die Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt, aber du hast es nicht gewollt!“ Das ist der große Schmerz, der Jesu Herz bedrückt, der seinen Augen Tränen entlockt. Ich wollte dein Bestes. Aber du willst nicht!
Jesus sieht das Sündhafte, das Furchtbare, das Verbrecherische, das Verderbenbringende dieses Nichtwollens! Der kleine Mensch, das hinfällige Geschöpf, stellt seinen geschaffenen Willen gegen Gottes Willen! Jerusalem und seine Bewohner, sein auserwähltes und bevorzugtes Volk, stellt seinen Willen gegen Gottes Willen! Trotzt töricht und verbrecherisch dem Willen Gottes! Darum weint Jesus über die abscheuliche Sünde und über die unausbleibliche Bestrafung. Gott läßt seiner nicht spotten!
Christen von Münster! Hat der Sohn Gottes in seiner Allwissenheit damals nur Jerusalem und sein Volk gesehen? Hat er nur über Jerusalem geweint? Ist das Volk Israel das einzige Volk, das Gott mit Vatersorge und Mutterliebe umgeben, beschützt, an sich gezogen hat? Und das nicht gewollt hat? Das Gottes Wahrheit abgelehnt, Gottes Gesetz von sich geworfen und so sich ins Verderben gestürzt hat? Hat Jesus, der allwissende Gott, damals auch unser deutsches Volk geschaut, auch unser Westfalenland, unser Münsterland, den Niederrhein? Und hat er auch über uns geweint? Über Münster geweint? Seit tausend Jahren hat er unsere Vorfahren und uns mit seiner Wahrheit belehrt, mit seinem Gesetz geleitet, mit seiner Gnade genährt, uns gesammelt, wie die Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt. Hat der allwissende Sohn Gottes damals gesehen, daß er in unserer Zeit auch über uns das Urteil sprechen muß: „Du hast nicht gewollt! Seht, euer Haus wird euch verwüstet werden!“ Wie furchtbar wäre das!
Meine Christen! Ich hoffe, es ist noch Zeit, aber es ist die höchste Zeit! Daß wir erkennen, noch heute, an diesem Tage, was uns zum Frieden dient, was allein uns retten, vor dem göttlichen Strafgericht bewahren kann: daß wir r&¨ckhaltlos und ohne Abstrich die von Gott geoffenbarte Wahrheit anneh men und durch unser Leben bekennen. Daß wir die göttlichen Gebote zur Richtschnur unseres Lebens machen und ernst machen mit dem Wort: lieber sterben als sündigen! Daß wir in Gebet und aufrichtiger Buße Gottes Verzeihung und Erbarmen herabflehen auf uns, auf unsere Stadt, auf unser Land, auf unser liebes deutsches Volk! Wer aber fortfahren will, Gottes Strafgericht herauszufordern, wer unsern Glauben lästert, wer Gottes Gebote verachtet, wer gemeinsame Sache macht mit jenen, die unsere Jugend dem Christentum entfremden, die unsere Ordensleute berauben und vertreiben, mit jenen, die unschuldige Menschen, unsere Brüder und Schwestern, dem Tode überliefern, mit dem wollen wir jeden vertrauten Umgang meiden, dessen Einfluß wollen wir uns und die Unsrigen entziehen, damit wir nicht angesteckt werden von seinem gottwidrigen Denken und Handeln, damit wir nicht mitschuldig werden und somit anheimfallen dem Strafgericht, das der gerechte Gott verhängen muß und verhängen wird über alle, die gleich der undankbaren Stadt Jerusalem nicht wollen, was Gott will. O Gott, laß uns doch alle heute, an diesem Tage, bevor es zu spät ist, erkennen, was uns zum Frieden dient! O heiligstes Herz Jesu, bist zu Tränen betrübt über die Verblendung und über die Missetaten der Menschen, hilf uns mit deiner Gnade, daß wir stets das erstreben, was dir gefällt, und auf das verzichten, was dir mißfällt, damit wir in deiner Liebe bleiben und Ruhe finden für unsere Seelen! Amen.
Textquelle: Bischöfliches Generalvikariat Münster