Kardinal Walter Kasper: Geistliches Wort
in der Lübecker Lutherkirche am 24. Juni 2011
Das Wort, um das Sie mich gebeten haben, möchte ich unter das Wort stellen: „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden…“ „Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle möglichen Weise verleumdet werdet. Freut euch, euer Lohn im Himmel wird groß sein“ (Mt 5,3–12; vgl. Lk 6,20–26).
Dieses Wort aus den Seligpreisungen der Bergpredigt erinnert uns an unsere Gemeinsamkeit, wenn wir heute Abend und morgen mit großem Respekt der vier Männer gedenken, die am 10. November 1943 unter dem Fallbeil ihr Leben hingegeben haben. Wie sie so stehen auch wir gemeinsam unter dem Wort des Herrn. Deshalb möchte ich zunächst meinen Dank dafür aussprechen, dass ich heute Abend zur Ihnen sprechen kann. Ich grüße Sie alle sehr herzlich. Ich grüße vor allem die Angehörigen der Familie Stellbrink.
Zu den Zeiten, zu denen unsere Gedanken heute Abend zurückgehen, wäre es ganz und gar undenkbar und völlig ausgeschlossen gewesen, dass ein römischer Kardinal vor einer evangelischen Gemeinde spricht. Dass dies heute möglich ist, verdanken wir eben den vier Männern, deren ehrendem und dankbarem Andenken dieser Gottesdienst gilt. Sie haben, ohne das Wort Ökumene zu gebrauchen, die Grundlagen für das gelegt, was wir heute Ökumene nennen und Gott sei Dank weitgehend selbstverständlich praktizieren.
Die Ökumene ist nicht am Schreibtisch entstanden; wir stehen in der Ökumene auf den Schultern von Männern, die in den Schützengräben des II. Weltkriegs zusammengeschweißt wurden, die sich in Konzentrationslagern im gemeinsamen Widerstand gegen ein menschenverachtendes totalitäres Regime gefunden haben, von Frauen und Männern, die in den Luftschutzbunkern zusammengekauert waren, und die sich dann in den wenigen nicht von Bomben zerstörten Kirchen Gastfreundschaft gewährt haben. Die Ökumene ist entstanden durch das Zeugnis der Männer und Frauen in allen Kirchen, die sich nicht blenden ließen und ihr Haupt nicht vor den damaligen Machthabern und ihren Idolen gebeugt haben.
Das Zeugnis der vier Lübecker Märtyrer ragt aus den vielen Märtyrern des letzten Jahrhunderts heraus und ist insofern einmalig. Nach einem Prozess, der eine Farce war, starben sie nacheinander innerhalb von nur dreißig Minuten unter dem Fallbeil, so dass ihr Blut ineinander geflossen ist. Mich erinnert das an ein Wort des Kirchenvaters Tertullian: „Das Blut der Märtyrer ist der Same neuer Christen.“ Es ist auch der Same, aus dem die ökumenische Annäherung gewachsen ist und – davon bin ich überzeugt – auf dessen Grundlage sie auch Zukunft haben wird. Ökumene ist die Ökumene der Märtyrer.
In den extrem schwierigen Umständen von damals, die Gott sei Dank nicht mehr die unsrigen sind, haben diese Männer und Frauen entdeckt, dass evangelische, katholische und orthodoxe Christen mehr verbindet als was uns leider trennt. Sie haben sich auf die uns gemeinsame Grundlage des Evangeliums besonnen: „Selig sind die vor Gott arm sind…, selig die Trauernden, selig die keine Gewalt anwenden…, selig die Barmherzigen… und schließlich, selig die um meinetwillen verfolgt werden.“
Das sind Worte, die unseren Ohren nicht schmeicheln. Das ist eine aufregende und provozierende Botschaft, heute wie damals. Denn da werden Menschen selig gesprochen, die wir normaler Weise nicht als selig und nicht als glücklich bezeichnen. In der Bergpredigt gelten andere Maßstäbe als sie damals galten, andere auch als die, welche heute gemeinhin gelten. Da werden unsere Glücks- und Seligkeitserwartungen auf das uns gemeinsame Maß verwiesen: auf Jesus Christus, sein Kreuz und seine Auferstehung, auf Jesus Christus als – wie wir soeben gesungen haben – unseres Lebens Licht, Hort, Trost und Zuversicht, auf dessen Tod und Auferstehung wir gemeinsam getauft sind.
Es werden uns an diesem Abend und Morgen freilich auch die Unterschiede schmerzlich bewusst, die zwischen der evangelischen Kirche und der katholischen Kirche stehen. Katholiken ist Seligsprechung ein vertrautes, den meisten evangelischen Christen aber, wenn überhaupt, ein nur schwer verständliches Wort. Lassen Sie mich dazu nur dies sagen: Jesus Christus allein ist Herr, Heiland und Seligmacher. Nicht die Kirche sondern Jesus selbst und er allein spricht selig, so wie er es in der Bergpredigt getan hat. Wenn die katholische Kirche selig spricht, dann sagt sie: die Seligsprechung Jesu gilt, sie ist verlässlich. Aus Achtung vor der Überzeugung evangelischer Christen können wir diese liturgische Seligsprechung nur für die drei katholischen Kapläne vollziehen; doch Jesu Seligsprechung gilt selbstverständlich für alle vier Männer, die am 10. November 1943 hingerichtet wurden. Wir verehren alle vier als Märtyrer, d. h. als Zeugen für Jesus Christus.
An den vier Lübecker Märtyrern können wir uns – wie es in den Bekenntnisschriften der lutherischen Kirchen heißt – ein Exempel nehmen. Sie haben nicht getan, was „man“ so tut und wie „man“ sich so verhält. Sie haben sich vor den alten und neuen Götzen nicht gebeugt; sie sind christlichen Gewissen gefolgt, weil sie wussten, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen (Apg 5,29).
Pastor Karl Friedrich Stellbrink ist dabei einen langen Weg gegangen, und er ist ihn zunehmend von anderen verkannt einsam gegangen, aber ist ihn in Treue bis zum Ende gegangen. Im Abschiedsbrief an seine Frau hat er uns ein eindrückliches Zeugnis seines Glaubens und seiner Hoffnung hinterlassen. Zusammen mit den drei Kaplänen hat er gezeigt: Als Christ kann man nicht überall mitmachen und nicht immer beim großen Haufen mitlaufen, so wie es damals leider viele getan haben und es heute in anderer Weise wieder viele tun.
Auch in unserer vollkommen anderen Situation brauchen wir Christen, die den Mund aufmachen und den Kopf hinhalten. Auch heute kann Christsein nicht der bequeme Weg der Anpassung und des geringsten Widerstands sein. Die vier Lübecker Märtyrer erinnern uns an den Ernstfall des Christseins. Wir dürfen dankbar sein, dass uns damals solche Christen in Lübeck geschenkt wurden. Wir dürfen dankbar sein, dass sie uns heute als Vorbild und als Ermutigung geschenkt sind. Darum dürfen wir in den großen ökumenischen Chor der Märtyrer einstimmen und singen „Großer Gott wir loben dich; Herr wir preisen deine Stärke.“ Amen.