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Erzbischof Thissen: Das Gedächtnis sichern

Ansprache am 3. November 2003 im Kulturforum Burgkloster Lübeck

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

bereits vorhin in der Eucharistiefeier habe ich darauf hingewiesen, dass mir einer der vier Lübecker Märtyrer schon mit Namen bekannt geworden ist, als ich selbst noch Jugendlicher war. Es ist der Kaplan Eduard Müller. Sein Gebet wurde damals in meinem Heimatbistum Münster verbreitet: „Herr hier sind meine Hände, leg darauf, was du willst, nimm hinweg, was du willst, führe mich, wohin du willst, in allem geschehe sein Wille.“ Es gehört zu meinem festen Gebetsschatz. Und mit dem Gebet erfuhr ich zum ersten Mal auch etwas über die anderen drei Lübecker Märtyrer.

Die ganze Tragweite dieses Martyriums habe ich damals noch nicht erfassen können. Wahrscheinlich ging das vielen so. Die Zeit reichte damals noch zu nahe heran an die Diktatur des Nationalsozialismus und den Widerstand gegen ihn. Das ist ja eine Erfahrung, die für viele historische Ereignisse gilt: Große zeitliche Nähe erschwert die Übersicht. Abstand ist manchmal notwendig, um das Ganze in den Blick zu bekommen.

Aber nicht nur zu große Nähe, auch zu großer Abstand kann es schwer machen, das Geschehene angemessen wahrzunehmen. Wir stehen jetzt in einem Abstand von 60 Jahren zu dem gewaltsamen Tod der vier Lübecker Geistlichen. Die Befangenheit in der unmittelbaren Zeit nach dem Martyrium und nach dem Untergang der nationalsozialistischen Diktatur ist längst einer nüchternen historischen Betrachtungsweise gewichen. Es gibt eine gute Publikationslage zum Leben und Sterben der vier Geistlichen. Aber es gibt in unserer schnelllebigen Zeit auch die Gefahr des Übersehens und Überhörens ihres Zeugnisses.

Wenn es stimmt, was die Lübecker Zeitung kürzlich berichtete, dass nämlich die einschlägige Literatur zu den vier Märtyrern in der Lübecker Stadtbibliothek nicht zu haben ist, dann ist das ja noch ein doppeldeutiges Signal. Es kann zum einen bedeuten, dass die Literatur, die ohnehin in jedem Lübecker Haushalt steht, nicht auch noch einmal in der Stadtbibliothek vorhanden sein muss. Das wäre die positive Deutung. Es kann aber auch bedeuten, dass es sich hier um ein Vergessen handelt, welches bedenklich ist. Ich befürchte, die letztere Deutung ist die Realistischere.

Gab es zunächst in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Praxis des Verdrängens, so neigen wir heute vielfach zu einer Praxis des Vergessens. Deshalb halte ich es für eine wichtige und notwendige Tat, diese Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es sollte keinen Lübecker Bürger und keine Bürgerin und auch keine jungen Leute hier in dieser schönen Stadt geben, welche diese Ausstellung nicht aufmerken lässt.

Ich habe mir sagen lassen, dass es hier in Lübeck engagierte Kreise gibt, die das Gedenken an die vier Märtyrer wach halten. Es ist mir eine wichtige Verpflichtung, allen zu danken, die dafür sorgen, dass nichts Wesentliches von dem in Vergessenheit gerät, was die Geistlichen Karl Friedrich Stellbrink, Eduard Müller, Johannes Prassek und Hermann Lange gelebt, erlebt und erlitten haben. Denn die vier Märtyrer sind auf vielfache Weise Zeugen für menschliche und christliche Verhaltensweisen, die vorbildlich und beispielhaft sind.

Es ist eine wichtige Aufgabe, das Gedächtnis an die vier Lübecker Märtyrer zu sichern und zu gestalten. In diesem Zusammenhang ist sowohl im Erzbistum Hamburg als auch im Bistum Osnabrück die Frage aufgekommen, ob es nicht an der Zeit sei, ein Seligsprechungsverfahren für die Lübecker Märtyrer einzuleiten. Ob das nicht auch ein Beitrag sein könnte, um das Gedächtnis zu sichern? Wenn ich sehe, wie sehr die Seligsprechung von Mutter Teresa die Welt und die Medien beschäftigt hat, dann würde ich mir eine ähnliche Aufmerksamkeit auch für die vier Lübecker Märtyrer wünschen.

Aber wie soll das gehen? Drei der Lübecker Märtyrer gehören zur katholischen Kirche, einer zur evangelischen Kirche. Seligsprechung ist nun aber eine katholische Angelegenheit. Wir sollten die Fragen, die damit verbunden sind, in Ruhe und in bewährter ökumenischer Verbundenheit angehen.

Eines muss dabei aber klar sein: Die vier Lübecker Märtyrer gehören zusammen. Bei einer Seligsprechung der drei Lübecker Kapläne darf Pastor Stellbrink nicht völlig außen vor bleiben. Es darf aber auch nicht der Eindruck entstehen, Pastor Stellbrink würde von der katholischen Kirche vereinnahmt. Da wird es also noch Klärungsbedarf geben. Ich hoffe sehr, dass eine solche Klärung möglich ist.

Aber vielleicht steckt in der Zugehörigkeit der Lübecker Märtyrer zur evangelischen und zur katholischen Kirche auch eine besondere ökumenische Chance. Den vier Geistlichen war bewusst, dass sie zwei verschiedenen Kirchen angehören. Aber weit mehr war ihnen bewusst, dass Jesus Christus die Mitte ihres Lebens ist. Eine Mitte, die bei aller konfessioneller Trennung, die damals weitaus stärker war als heute, vor allem verbindet. Die Ökumene der Märtyrer, deren Blut buchstäblich ineinandergeflossen ist, kann die Ökumene der Gegenwart vielleicht sogar besonders anregen. Das hat sie ja bisher auch schon getan. Ich meine das aber auch im Hinblick auf die Frage einer Seligsprechung. Besonders kostbar wird die Lübecker Situation nicht nur durch die ökumenische Gemeinsamkeit, sondern auch durch die Gemeinsamkeit von Seelsorgern und Laien. Achtzehn Christen, die mit den vier Seelsorgern Kontakt hatten, wurden mit ihnen verhaftet. Auch das sollte in einem Seligsprechungsverfahren gewürdigt werden, auch wenn der Akt der Seligsprechung den Märtyrern gilt. Unser gemeinsames Anliegen ist es, das Gedächtnis der vier Lübecker Märtyrer und ihres Umfeldes zu sichern. Ihr Leben und ihr Zeugnis ist so kostbar, dass es für Gegenwart und Zukunft im Bewusstsein bleiben muss. Ich bin dankbar dafür, dass auch diese Ausstellung dazu einen wesentlichen Beitrag leistet.


Dieser Text ist von Erzbischof Dr. Thissen weitgehend frei gesprochen worden mit Einfügungen und Erläuterungen. Die textliche Widergabe, die hier vorliegt ist korrekt. Der Vortrag selbst aber war ausführlicher. Vor allem hat der Erzbischof darauf hingewiesen, dass ja nicht nur die vier Märtyrer wichtige Zeugen für Christus in Lübeck waren, sondern dass auch viele andere ein herausragendes christliches Zeugnis gegeben haben, von denen einige auch noch leben.

 

 

Info


Ansprache von Erzbischof Dr. Werner Thissen am 3. November 2003 im Kulturforum Burgkloster in Lübeck anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung „Ökumene im Widerstand – Leben und gewaltsames Sterben der vier Lübecker Geistlichen in der Zeit des Nationalsozialismus“

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