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Bischof Gerhard Ulrich: Geistliches Wort

zur Seligsprechung im Pontifikalamt am 25. Juni 2011

I

Liebe Schwestern und Brüder!

„Sag niemals drei, sag immer vier!“ – Dieser Satz des ehemaligen Mithäftlings der vier Lübecker Geistlichen ist zu einem richtungweisenden Satz geworden für alle, die das gemeinsame ökumenische Gedenken an die vier Lübecker Märtyrer über Jahrzehnte lebendig gehalten haben. „Sag niemals drei, sag immer vier“ – das empfinde ich auch als Verpflichtung an uns, wenn wir gestern und heute der vier gedenken und drei von ihnen selig gesprochen wurden. Denn der Leidensweg der drei katholischen Kapläne Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und des evangelischen Pastors Karl Friedrich Stellbrink ist beispielhaft für eine Ökumene der Märtyrer. Ein Martyrium der Ökumene unter dem Kreuz Jesu! Das Bleiben bei Christus und die Teilnahme am seinem Leiden in dieser Welt hatte die vier zueinander finden lassen und Fürbitte und Fürsorge füreinander gefestigt. Ich finde diese Verbundenheit mit dem leidenden Christus eindrücklich beschrieben in einem von Johannes Prassek formulierten Gebet, das er kurz vor dem Prozess in seine Ausgabe des Neuen Testaments geschrieben hat. Es heißt dort:

„In deiner Kraft, mein Herr und Heiland,
nehme ich auf mich das Schwere,
das Gott mir zugedacht,
mit Dir spreche ich zum Vater im Himmel.
Dein Wille geschehe.
Dein Wille geschehe in mir und durch mich.“ [1]

Für mich gibt diese durchlebte und durchlittene Ökumene unter dem Kreuz eine deutliche Richtung an auch für uns, liebe Schwestern und Brüder heute: Je näher wir zu Christus kommen, desto näher kommen wir zueinander! Auch bei allen weiter bestehenden Differenzen zwischen den christlichen Konfessionen kann gesagt werden: Das, was uns verbindet, ist stärker als das, was uns trennt! So jedenfalls verstehe ich das Glaubenszeugnis der vier Lübecker Märtyrer als einen aufrüttelnden Ruf nach vorwärts! Also nicht nachzulassen mit allen Bemühungen, das Trennende zu überwinden und zu einem geschwisterlichen Miteinander zu kommen, also wahr und wirklich werden zu lassen die Einheit, die in Christus selbst schon grundgelegt ist. Für den Pastor Karl Friedrich Stellbrink lässt es sich ja mit Sicherheit sagen: Die Hinwendung zu dem gekreuzigten Christus auch im ökumenischen, brüderlichen Gebet und Studium der Schrift war zugleich eine Abkehr von der nationalsozialistischen Wahnvorstellung eines „heldischen Jesus“. Die Hinwendung zu dem gekreuzigten Christus war zugleich eine Abkehr von der nationalsozialistischen Wahnvorstellung eines „arischen Christus“. Die Hinwendung zu dem gekreuzigten Christus war zugleich eine Abkehr vom anti-katholischen Affekt gegen die „römischen Pfaffen“. Der Weg des Widerstands war für ihn mehr und mehr ein Weg in die Freiheit geworden. So jedenfalls kann man seine Briefe, die erhalten geblieben sind, auch lesen.

II

Liebe Schwestern und Brüder!

Natürlich ist mir heute die Bergpredigt Jesu im Kopf mit der Seligpreisung der Verfolgten und Zerschundenen.

„Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihr.“

Bekanntlich kennen wir in der Evangelischen Kirche keine Seligsprechung im Sinne des Kirchenrechts, wie es in der Katholischen Kirche gültig ist. Für uns geschieht sie in der Taufe, aus der alles kriecht und die uns zu Mitgliedern der Gemeinschaft der Heiligen macht. Wir Evangelischen sollen und wollen gleichwohl der Heiligen und Märtyrer als Vorbilder im Glauben gedenken, dass wir darin unseren Glauben stärken. So steht es im Augsburger Bekenntnis von 1530.

Die weltweite Ökumene ist über alle Grenzen und Unterschiede der Konfessionen hinweg vor allem aber noch in einem ganz grundlegenden Sinne miteinander verbunden: Die Heilige Schrift ist und bleibt das Fundament der Einheit, in dem die vielgestaltige und bunte christliche Weltfamilie zusammen gehalten wird.

In diesem Sinne verstehe ich die genannte Seligpreisung Jesu aus der Bergpredigt. Sie ist eine Seligsprechung ganz unüberbietbarer Art: Jesus Christus selbst spricht selig die Menschen, die Verfolgung erleiden, weil sie für Gott und seine gerechte Sache einstehen und kämpfen.

Die vier Lübecker Märtyrer sind für mich von Jesus selbst selig Gesprochene: Sie haben in einer Zeit, in der eine mörderische „Wahrheit“ verordnet wurde von den nationalsozialistischen Machthabern, mit Wort und Tat bezeugt die christliche Wahrheit von der Liebe Gottes zu allen Menschen! Sie waren auf ihre je eigene Weise Gotteskämpfer – Kämpfer und Zeugen in Wort und Tat für Gottes allumfassende Liebe und Gerechtigkeit. So etwas konnten die nationalsozialistischen Schergen nicht ertragen – und sie wurden so auch zu Mördern von Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und Karl Friedrich Stellbrink.

Als Todesursache wurde nach der Hinrichtung am 10. November 1943 amtlich festgestellt: „Trennung des Halswirbels“. Eine infame Verschleierung des Verbrechens, die für mich deutlich erkennen lässt: Die Mörder wussten, was sie taten!

III

Liebe Schwestern und Brüder, wir haben gestern im Gedenkgottesdienst in der Lutherkirche das Lebenszeugnis der vier Lübecker Märtyrer verstanden als Lebenszeugnis in der Spur Johannes des Täufers. Die vier jedenfalls haben sich sicher nie als Helden verstanden, sondern als Christenmenschen, die wie Johannes der Täufer wegwiesen von sich selbst und hinwiesen auf den gekreuzigten Jesus. Von Karl Friedrich Stellbrink, der über lange Jahre ein glühender Verehrer des „Führers“ Adolf Hitler war, wissen wir, wie erschüttert und verzweifelt er war, als er 1942 in die Vorwerker Friedhofskapelle kam und dort die große Figur des gekreuzigten Christus vorfand – verhängt mit einem schwarzen Mantel. Unmittelbar zuvor war dort die Trauerfeier für eine lokale Nazigröße abgehalten worden – und dabei hatte zu gelten: Juden unerwünscht! Und: Christus unerwünscht! – Da war für Stellbrink wohl zu ahnen, wohin führen wird der Nazi-Wahn.

Wie anders wurde dann die Erfahrung der vier miteinander in der Ökumene der Märtyrer: Je näher wir zu Christus kommen, desto näher kommen wir zueinander! 

Ich danke allen Christinnen und Christen in Lübeck und weit darüber hinaus, dass sie über Jahrzehnte die ehrende Erinnerung an die vier Lübecker Geistlichen wach gehalten haben. So ist ein Erbe auf uns gekommen, das uns mit großem Dank erfüllt und zugleich eine bleibende Verpflichtung ist, nicht ängstlich oder feige wegzuschauen, wenn Unrecht geschieht oder der alte Ungeist immer neu sich in unser Leben drängt; den Mund aufzutun für die Schwachen und Elenden, Verfolgten und Gemarterten; die Türen zu öffnen für die Fremden. Mit dem ehrenden Gedenken und der Seligsprechungsfeier heute wird eindrücklich klar gemacht, dass die vier Lübecker Märtyrer nicht nur Lübeck gehören. Sondern sie sind Jesu Brüder in der weltumspannenden Ökumene, in der einen Gemeinschaft der Heiligen.

Amen.


[1] Mit identischen Worten schrieb auch Eduard Müller dieses Gebet vorne in sein Neues Testament, so dass man annehmen könnte, beide hätten den Text aus derselben Quelle abgeschrieben – einer religiösen Zeitschrift, einem Traktat oder ähnlichem – oder der eine Kaplan hat den Text vom anderen, was voraussetzt, dass Sie miteinander Kontakt und Austausch hatten, vielleicht über Kassiber? All das ist noch Spekulation und harrt noch der Erforschung. [Anm. der Red.]

 

Info


Bischof Gerhard Ulrich sprach das Geistliche Wort am Schluss des Gottesdienstes zur Seligsprechung in Lübeck auf der Parade am 25. Juni 2011.