Pater Martin Löwenstein SJ: Bekenntnis zur Hoffnung
Predigt am 29. Mai 2011
1. Kulturkrankheit Depression
Könnte Depression eine stellvertretende Krankheit sein? Stellvertretend, wie strahlenverseuchten Menschen in der Umgebung von Tschernobyl und Fukushima oder Vergiftete in den Ölfördergebieten von Nigeria Krankheit auferlegt wurde. Sie werden krank, stellvertretend für eine energiehungrige und technikgläubige Gesellschaft.
Stellvertretende Krankheit ist ein Leiden, dessen Ursache größer ist, als der Kranke; eine Krankheit der Gesellschaft, deren Symptome Einzelne an ihrem Leib austragen müssen. Das stellt Fragen an die Gesellschaft, aber auch an die, die, ob sie wollen oder nicht, die Folgen zu tragen haben. Bei Depressionen können die moderne Psychologie und Pharmazie vieles mildern und helfen, mit der Krankheit zu leben. Mindestens so wichtig aber ist, dass wir zusammen die Ursachen angehen und nicht nur die Symptome. Das wird eine langwierige Aufgabe, auch wenn die Halbwertszeit einer depressiv machenden Kultur nicht gar so lang ist, wie die des Strahlenmülls der Atomkraftwerke.
Die Spur zur Heilung finde ich in dem zentralen Stichwort der heutigen Lesung aus dem Ersten Petrusbrief: "die Hoffnung, die uns erfüllt". Das Wort Hoffnung beschreibt hier das glaubende Vertrauen: Für mich als Einzelnen und uns zusammen; angesichts dessen, was uns real bedrängt, und im Blick auf das, worauf wir setzen.
Ich vermute, dass der Mangel an solcher Hoffnung zumindest eine Ursache der kulturellen Depression ist. Eine Kultur, zu deren Dogmen die Machbarkeit und die unmittelbare Erfüllung aller Wünsche gehört, macht depressiv. Denn nicht alles lässt sich machen und schon gar nicht unmittelbar bekommen, zumal wenn es nicht mehr um Waren geht, die ich mit einer Kreditkarte bezahlen kann. Nicht machbar und einfach zu konsumieren ist all das, wo es auf Treue und Hingabe ankommt. Das lässt sich aber auch bei so etwas wie dem Körperkult sehen, der uns von unzähligen Plakatwänden eine Perfektion vorspiegelt, hinter der die allermeisten - die Kranken und älter Werdenden zumal - notwendig zurückbleiben - deprimiert zurückbleiben.
2. Unzerstörbare Freiheit
Die Situation, in die hinein der Erste Petrusbrief geschrieben ist, gäbe jeden Anlass zur Depression. Die zunehmende Ausgrenzung und blutige Christenverfolgungen waren Realität. Daher geraten mir ganz automatisch die Lübecker Märtyrer in den Blick. Im Juni gedenken wir der vier Geistlichen aus der evangelischen und katholischen Kirche, die 1943 hingerichtet wurden. Die drei Kapläne unter ihnen werden durch die Kirche seliggesprochen.
Johannes Prassek ist einer von Ihnen. Er wurde in Hamburg von einer noch ledigen Frau geboren. Nachdem sie den Vater des Kindes, einen katholischen Arbeiter, geheiratet hatte, lebten sie in Barmbek. Hier bei uns, im Kleinen Michel, wurde er am 18. Juni 1923 gefirmt. Als Kaplan in Lübeck gehörte er zu denen, die durch ihr klares Auftreten gegen den Rassenwahn der Nazis in das Schussfeld des Volksgerichtshofes gerieten. Zusammen mit den lutherischen und katholischen Mitbrüdern wurde er am 10. November 1943, wieder hier auf dem Gebiet unserer Gemeinde, im Gefängnis am Holstenwall enthauptet.
Wer die Briefe liest, die er aus dem Gefängnis geschrieben hat, findet darin manch Bedrückendes, aber keine Depression. Dabei hätte er jeden Grund gehabt. Der Prozess gegen ihn war eine Farce, denn das Urteil hatte der "Führer" schon im vorhinein festgelegt. Auch wenn Prassek eine Befreiung aus dem Gefängnis lange für möglich gehalten hat, stand ihm doch zugleich die Perspektive des Todes deutlich vor Augen. Wie bei den Christen der ersten Verfolgungszeit fragt man sich, warum diese Menschen viel weniger depressiv wirken, als eine Kultur heute, die vergleichsweise in ruhigen und sicheren Verhältnissen lebt.
Prassek hat in ein Exemplar des Neuen Testamentes, das er in seiner Zelle haben durfte, ganz vorne einen Satz eingetragen: "Wer sterben kann, wer will den zwingen?" Das ist "Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt", wie es das Johannesevangelium formuliert!
Die Wahrheit, dass Gott bereit ist, ihn durch den Tod hindurch zu tragen, kann Prassek nur erfassen, weil er in Christus, den Gekreuzigten Gott selbst sieht und kennt.
Das ist die Wurzel einer Freiheit gegenüber denen, die ihn mit dem Tod bedrohen. Freiheit, die selbst der Terror der Nazijustiz nicht erschüttern konnte. Die Nazis versuchten Menschen zu zwingen, indem sie ihnen die Freiheit und das Leben nahmen. Prassek hatte beides schon längst verloren, weil er seine Freiheit und sein Leben Gott übergeben hatte. Daher konnten sie ihn nicht mehr zwingen, der Wahrheit, für die er eingestanden ist, untreu zu werden: "Wer sterben kann, wer will den zwingen?"
3. Ermutigende Hoffnung
Es wäre eine Versuchung, sich die Klarheit der Entscheidungssituation eines Johannes Prassek herbeizusehnen und in billige Ablehnung des teuer erkauften Friedens von heute zu verfallen. Wir leben nicht in der Nazizeit, Gott sei Dank! Aber auch Johannes Prassek hatte sich seine Situation weder gewünscht noch ausgesucht. Er war jedoch durch seinen gewachsenen Glauben zur Entscheidung befähigt, als dieser von ihm gefordert wurde.
Hier hängen seine und unsere Situation zusammen. Denn der schleichenden kulturellen Depression heute fehlt genau die Hoffnung, die in der Entscheidung zum Martyrium befähigt. Anders gesagt: Das echte, christliche Martyrium ist nicht der Widerstand gegen etwas, sondern die Ausrichtung für etwas. Der Petrusbrief bringt uns auf die Spur. "Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt; aber antwortet bescheiden und ehrfürchtig, denn ihr habt ein reines Gewissen." Würde dieses "aber" fehlen, wäre das Bekenntnis zur Hoffnung leer. Es bliebe nur der Trotz im Widerstand und die Ablehnung.
Der Petrusbrief macht deutlich, dass der Christ in der Verfolgung die Hoffnung nicht nur für sich hat, sondern - paradoxerweise - in der Verfolgung auch für die Verfolger. Deswegen sollen die Christen vor den heidnischen Gerichten "ehrfürchtig" antworten, wenn sie nach ihrer Hoffnung befragt werden. Denn sie wissen, dass dieses "Christus ist der Sünden wegen gestorben - er der Gerechte für die Ungerechten" alle umschließt. Deswegen nimmt der christliche Märtyrer den Tod an, weil sein Gebet und seine Hoffnung auch dem Mörder gelten. Seine Hoffnung hat weder die Ursache in der eigenen Gerechtigkeit noch ihr Ziel nur für ihn selbst. (All das unterscheidet ihn fundamental von den heute oft genannten "Märtyrern", die sich und anderen nur Tod bringen).
Auf ihre Weise sagt unsere Kultur Menschen, die nicht den Erfordernissen entsprechen, sie seien nichts wert. Sie schickt sich an, menschliches Leben pränatal diagnostiziert auszusortieren, und signalisiert Alten und Kranken, dass sie eine Last seien.
All denen, die sich diesem Verwertungsmechanismus einer Kultur der Starken und Erfolgreichen widersetzen, sagt der Glaube an Christus: Lebt und sprecht so, dass ihr "Rede und Antwort steht" für die "Hoffnung, die euch erfüllt". Habt die Kraft, nicht mitzumachen beim immergleichen Spiel. Aber bleibt dabei "bescheiden und ehrfürchtig". Meint nicht, ihr seid besser oder gerechter. Sucht einfach die Freiheit aus dem glaubenden Vertrauen in Christus, den niemand zwingen konnte, weil er sein Leben schon längst an den Vater verloren - und in ihm gewonnen hat. Amen.
Info
Pater Martin Löwenstein ist Jesuit und Pfarrer des Kleinen Michels/St.Ansgar in Hamburg. Er hielt die Predigt am 6. Ostersonntag, 29. Mai 2011, zur Bibelstelle 1 Petr 3, 15–18. Nebenstehend eine gekürzte Predigtskizze, im mp3-Download die vollständige Predigt.