Karl Kardinal Lehmann: Mut und Vertrauen
Predigt am 10. November 2003 in Lübeck
Der 10. November reiht sich an einen Tag, der für die deutsche Geschichte besonders wichtig ist. Der 9. November hat im vergangenen Jahrhundert viermal eine große Rolle gespielt: 1918 Sturz der Monarchie und Ausrufung der Republik, 1923 Hitlers Marsch zur Münchner Feldherrenhalle, 1938 Pogromnacht gegen die Juden, 1989 Fall der Berliner Mauer. Da fügt sich der 10. November, den man in Lübeck schon lange begeht, würdig an und gibt uns eine eigene Lektion.
In dieser Stunde vor 60 Jahren haben vier Geistliche aus den beiden großen Kirchen ihr Leben verloren. Sie wurden zum größten Teil wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Rundfunkverbrechen, Zersetzung der Wehrkraft und landesverräterischer Feindbegünstigungen zum Tode verurteilt. Es ist bis heute ungewöhnlich und beispielgebend, dass in einer Stadt Christen beider Kirchen miteinander der menschenverachtenden Diktatur widerstanden und dabei ihr Leben lassen mussten. Karl Friedrich Stellbrink, Pastor an der Lutherkirche, 1894 geboren, hatte sich von einem Anhänger des Nationalsozialismus zu einem entschlossenen Gegner gewandelt. Er passte nicht so recht in das damalige Spektrum der Lübecker Pfarrer-Kollegen, den er gehörte weder zu den „Deutschen Christen“ noch zur „Bekennenden Kirche“. In seiner Unbeugsamkeit und in seinem Temperament glich er Kaplan Johannes Prassek, geboren 1911, in der Herz-Jesu-Kirche tätig. Beide waren freundschaftlich miteinander verbunden. Sie tauschten sich aus über die Nazi- Verbrechen, über den Fortgang des Krieges, tauschten Hinweise auf die Frequenzen „feindlicher“ Rundfunksender und verbreiteten Flugschriften, darunter die Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen. Vikar Hermann Lange, geboren 1912, und Kaplan Eduard Müller, geboren 1911, kamen hinzu. Nach Stellbrink wurden die drei katholischen Priester und 18 weitere Laien festgenommen. Sie blieben alle treu im Bekenntnis und bereit zum Leiden für ihre Überzeugung. Ich vermute, dass noch einige unter uns leben.
Es lohnt sich, auch an diesem Abend das Todesurteil des Volksgerichtshofes gegen die drei katholischen Priester nochmals im Wortlaut zu hören:
„Ihnen ist zur Last gelegt, seit 1940 oder Anfang 1941 ständig deutschsprachige Sendungen des feindlichen Rundfunks abgehört und verbreitet und dadurch die Feindpropaganda gefördert zu haben. Sie haben ferner seit Frühjahr oder Sommer 1941 auf Anordnung Ihrer vorgesetzten Kirchenbehörde regelmäßig Gruppenabende veranstaltet, die der religiösen Vertiefung der Teilnehmer dienen sollten und zu denen sich auf Einladung durch die Angeklagten überwiegend junge Männer einfanden, die zum Teil der Wehrmacht angehörten und die weitere Gäste einführten; sie sind weiter beschuldigt, auf diesen Gruppenabenden durch Hetze gegen den nationalsozialistischen Staat, und zwar auch durch Verteilung von Schriften, dem Kriegsfeind Vorschub geleistet und Vorbereitung zum Hochverrat begangen zu haben.“
Wir können uns heute angesichts der Freiheiten, über die wir verfügen, kaum vorstellen, dass man wegen dieser Anklagepunkte das Leben verlieren kann. Trotz des jugendlichen Alters – nur Pastor Stellbrink war 49 Jahre alt – bewiesen sie eine kaum vorstellbare Stärke und Entschlossenheit im Glauben. Besonders Kaplan Prassek litt am meisten darunter, dass er einen jungen Gestapo-Spitzel, der Interesse am Glauben vorgab und vielfache Hilfe brauchte, Vertrauen schenkte. Die Freunde außerhalb der Gefängnismauern zitterten um sie. Die Haltung der vier brachte ihnen auch die Sympathie der Gefängnisbeamten ein. So schrieb Eduard Müller in seiner gradlinigen Frömmigkeit nach dem Todesurteil die Worte nieder:
„So habe ich die Erwartung und Hoffnung, dass ich in keinem Stück werde zuschanden werden, sondern dass in allem Freimut, wie immer, auch jetzt Christus an meinem Leibe verherrlicht werde, sei es durch Leben, sei es durch Tod. Denn für mich ist das Leben Christus und das Sterben Gewinn!“
Der Abschiedsbrief von Johannes Prassek ist nicht erhalten. Wahrscheinlich wurde er wegen seines scharfen Bekenntnisses vernichtet.1
Ich brauche nicht mehr aus dem Leben der vier Geistlichen nachzuerzählen. In Lübeck kennt man dies alles. Gewiss haben Sie, besonders mit den verhafteten 18 Laien und den Freunden in diesen 60 Jahren alles zusammengetragen, was man noch in Erfahrung bringen konnte. So wird die Zeit reif für eine umfangreichere Darstellung.
Einzigartig bleibt auch die Tatsache, dass hier am selben Tag vier Geistliche aus den beiden großen Kirchen zusammen ihr Leben verloren haben. Darum wollen wir auch von den drei Kaplänen nicht reden, ohne im selben Atemzug den evangelischen Bruder Karl Friedrich Stellbrink zu nennen. Bei aller Unterschiedlichkeit haben diese vier Geistlichen etwas gemeinsam: Sie öffnen uns die Augen. Sie waren vom Vertrauen erfüllt, in allen Zeiten und Situationen gehalten zu sein. Wir brauchen heute wie damals gemeinsam den Mut, Unwahrheit und Unrecht wahrzunehmen und dagegen zu handeln. Wir dürfen nicht einfach feig wegschauen, sondern brauchen gemeinsam den Mut zum Bekenntnis und zum Sich-Einmischen.
Leid und Verfolgung um des Glaubens willen haben Christen zu allen Zeiten erfahren. In der frühen Christenheit wurde das Wort „Märtyrer“ bald für diejenigen reserviert, die für ihren Glauben das Leben eingesetzt hatten. Durch jährliche Gedächtnisfeiern wurde ihr Beispiel in Erinnerung gehalten. Sie wurden zum orientierenden Beispiel eines vorbildlichen Christseins. Nach einem Wort Tertullians galt das Blut der Glaubenszeugen geradezu als Samen für neue Christen. Die Existenz des Märtyrers ist die höchstmögliche und konkreteste Ausprägung christlichen Daseins und zugleich des Menschseins. Der Märtyrer ist mit seinem Leiden und Sterben um der Wahrheit willen dem Menschensohn am nächsten. Der Märtyrer gehört darum in der Ur- und Frühkirche zur Mitte des christlichen Selbstverständnisses. Der Märtyrer ist der Zeuge schlechthin, der nicht nur die Verfolger anklagt, sondern auch die Offenbarung einer neuen Wirklichkeit bekundet. So ist der Märtyrer der Heilige schlechthin, die höchste Ausformung einer christlichen Existenz.
Es ist schade, dass dieses Lebenszeugnis bisher durch etwas unglücklich gebrauchte Kategorien für den Widerstand nicht so deutlich in ihren Konturen hervortritt. Man orientiert die Männer des Widerstands nur allzu gerne daran, ob sie im Umkreis des 20. Juni 1944 zu finden sind. Man reserviert oft auch den Begriff des Widerstands für eine bewusste politische Auflehnung. Darum fehlen die Namen der vier Lübecker Geistlichen sehr oft, z.B. im Lexikon des deutschen Widerstandes oder in zusammenfassenden Arbeiten oder Sammlungen von Portraits. Dies sind bedauerliche Lücken. Gelegentlich setzt man ihr Zeugnis auch dadurch herunter, dass man erklärt, es gehe hier ja nicht um einen aktiven politischen Widerstand, sondern es wäre eher Pech gewesen, dass sie verraten wurden. Deshalb ist es gut, die Zeugen für Jesus Christus als eine eigene Kategorie zu betrachten, die die politische und erst recht die menschliche Dimension einschließt. Dies verwandelt und erweitert auch den klassischen kirchlichen Begriff des Märtyrers.
Papst Johannes Paul II hat 1994 den Anstoß gegeben, eine alle Kontinente umfassende Martyrer-Geschichte des 20. Jahrhunderts auf den Weg zu bringen. Bis zum Jahr 2000 sollte die Sammlung abgeschlossen sein. Pünktlich erschienen im Jahr 1999 zur Jahrtausendwende zwei Bände „Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts“, im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz herausgegeben von Helmut Moll. Es ist eine erste Freude und Genugtuung, dass die Lübecker Kapläne hier unter dem neuen Erzbistum Hamburg ausführlich aufgenommen und beschrieben worden sind (vgl. Band I, 249-257, Verfasser: Martin Thoemmes). Dies ist ein wichtiges Denkmal, das in seinem Zeichencharakter nicht übersehen werden darf. Eindrucksvoll hat es Papst Johannes Paul II. in seinem Apostolischen Schreiben „Tertio millenio adveniente“ zum Ausdruck gebracht, übrigens genau am 10. November 1994. Es heißt dort:
„In unserem Jahrhundert sind die Martyrer zurückgekehrt, häufig unbekannt, gleichsam ‚unbekannte Soldaten‘ der großen Sache Gottes. Soweit als möglich dürfen ihre Zeugnisse in der Kirche nicht verloren gehen. Wie beim Konsistorium (der Kardinäle) empfohlen wurde, muss von den Ortskirchen alles unternommen werden, um durch das Anlegen der notwendigen Dokumentation nicht die Erinnerung zu verlieren an diejenigen, die das Martyrium erlitten haben.“
Wenn auch das vom Papst initiierte weltweite Sammeln aller Zeugnisse noch nicht im Ergebnis veröffentlicht werden konnte, so gibt es doch eine erste große Hilfe: Andrea Riccardi, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Rom und Gründer der Gemeinschaft S. Egidio (die seit 1968 ein globales Netzwerk der Friedensarbeit aufbaute), hat in einem ersten Anlauf eine weltumfassende Bilanz christlicher Martyrer im 20. Jahrhundert versucht. Das Buch ist auch unter dem Titel „Salz der Erde, Licht der Welt. Glaubenszeugnis und Christenverfolgung im 20. Jahrhundert“ in deutscher Sprache veröffentlicht (Freiburg i.Br. 2002). Es ist erfreulich, dass darin wenigstens kurz die vier Lübecker zusammen genannt werden (S. 89). Es sind also gute Anfänge gemacht worden, die weltweite Resonanz erzeugen können.
Aus diesen Untersuchungen wird deutlich, dass niemals zuvor in der Geschichte weltweit so viele Christen um des Glaubens willen Opfer von Verfolgung und gewaltsamem Tod geworden sind wie im 20. Jahrhundert. Die Diktaturen aller Art haben immer wieder auch den Widerstand mutiger Christen hervorgerufen, die ihrem Gewissen folgten und oft um den Preis ihres Lebens für Gerechtigkeit eintraten. Die Sammlung der Namen ruft uns die erschütternde Unmenschlichkeit gerade des vergangenen Jahrhunderts in Erinnerung. Es gibt nicht nur die vielen Märtyrer der christlichen Frühzeit und späterer Epochen.
Darum sind unsere Glaubenszeugen auch ein Beleg für eine unerschütterliche Menschlichkeit, die durch Terror und Schrecken immer wieder herausgefordert worden ist. So waren auch die Lübecker Geistlichen in tiefer Nacht „Zeugen für eine bessere Welt“.
Wir sind manchmal beschämt über unseren lauen und der Gleichgültigkeit benachbarten Kleinglauben. Es ist gefährlich für den heutigen christlichen Glauben, wenigstens in Europa, dass kaum jemand für die Ideale des christlichen Glaubens leidet und gar stirbt. Es gibt von Sören Kierkegaard in seinem Tagebuch aus dem Jahr 1919 eine wichtige Notiz: „Der einzige Ausdruck dafür, dass ein Unbedingtes da ist, ist dessen Märtyrer zu werden oder Märtyrer für es.“ Jedenfalls erwecken die Lübecker Geistlichen in uns die Frage: Ist in unserem Leben, für den Einzelnen und in Gesellschaft, etwas von solchem Wert, dass es sich dafür zu leben lohnt, groß genug, um dafür auch zu sterben? Ein jüdischer Philosoph und Rabbiner, Abraham Joschua Heschel, ruft uns zu:
„Wir können die Wahrheit nur leben, wenn wir auch die Kraft besitzen, dafür zu sterben (...) Ein Märtyrer ist Zeuge für das Heilige trotz des Bösen, er ist Zeuge für die Transzendenz und die transzendente Orientierung des Menschseins.“
Die Märtyrer zeigen uns, wie der Glaube in einer geschichtlichen Stunde verwurzelt sein muss, die christliche Hoffnung darf nicht leidensimmun, abstrakt und geschichtslos werden. In ihnen kann sich die Hoffnung neu und überzeugend angesichts der Gewalt, des Hasses und des Todes bewähren. Die Märtyrer sind besonders Zeugen dafür, dass die Gewalt nicht das letzte Wort hat. Amen.
1) Die Abschiedsbriefe Prasseks waren zum Zeitpunkt der Predigt verschollen und sind später wiederaufgetaucht. weiterlesen