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Kaplan Peter Otto: Das Feuer weitergeben

Predigt am 7. November 1999 in Lübeck

Predigt-Text: Lk 11,14-23: Austreibung eines stummen Dämons und Verteidigungsrede Jesu

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben!

Während meiner Studienzeit im Frankfurter Priesterseminar hatte ein Mitstudent draußen an seiner Zimmertür einen Spruch angebracht, den ich täglich mindestens einmal las, weil sein Zimmer gegenüber unseres Postzimmers lag. Und immer, wenn ich im Postzimmer an meinem Postfach war, las ich beim Herausgehen den Spruch an der gegenüberliegenden Zimmertür. Dieser Spruch ist mir im Gedächtnis geblieben, weil ich ihn sehr gut finde. Er bringt eine ganze Menge von dem auf den Punkt, was ich für unsere Glaubenstradition und das heutigen Gedenken an die vier Lübecker Märtyrer enorm wichtig halte. Der Spruch lautet: „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.“ - „Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers.“

Asche – das ist das, was Sie, die Luther-Gemeinde, und wir, die Propsteigemeinde Herz Jesu,  als Erinnerung und Gedenken in unseren Kirchen aufbewahren. Die Asche von Karl Friedrich Stellbrink und die Asche von Hermann Lange. Gewiß, weder hier noch dort, weder am heutigen Sonntag noch am nächsten Mittwoch wird die Asche der beiden angebetet. Aber bei unseren Gedenkgottesdiensten für unsere vier Märtyrer Johannes Prassek, Hermann Lange, Eduard Müller und Karl-Friedrich Stellbrink handelt es sich doch um eine Tradition, die schon viele Jahrzehnte gepflegt wird. Um eine Tradition, die Erinnerung wieder lebendig werden läßt. Darum kommen Jahr für Jahr Menschen nach Lübeck zurück, die in Verbindung standen mit den Vieren, die verwandt oder befreundet waren mit ihnen; die sie als Lehrer und Wegbegleiter geschätzt haben.

Die Asche, die wir von Pastor Stellbrink und Vikar Lange aufbewahren, erzählt vom Feuer. Ich meine nicht jenes lebensfeindliche, zerstörerische und todbringende Feuer des Nationalsozialismus, das den vier Geistlichen am 10. November 1943 unter dem Fallbeil im Hamburger Gefängnis am Holstenglacis das Leben geraubt hat. Sondern ich meine jenes Feuer des Glaubens, das sie in Auseinandersetzung und Konflikt mit dem ungerechten Nazi-Regime geführt hat. Dieses Feuer gilt es zu entdecken und weiterzugeben, wenn wir nicht Gefahr laufen wollen, ihre Asche und damit die Vergangenheit, das Tun der Vier anzubeten.

Vielleicht kann der Beginn des heutigen Evangeliums uns einen wichtigen Schlüssel zum Verstehen der vier Hingerichteten geben. Der Evangelist Lukas erzählt, daß Jesus einen Dämon austreibt, der stumm war. Stummheit kann sicherlich verschiedene Ursachen haben: Jemand hat gar nicht die körperlichen Voraussetzungen im Mund- und Rachenbereich, um sprechen zu können. Oder jemand ist so verschreckt und verängstigt, daß er kein Wort hervorbringt.

Die Lübecker Märtyrer waren nicht stumm. Sie haben offen und frei ausgesprochen, was sie dachten, was sie aus ihrem Glauben heraus erkannten. Karl-Friedrich Stellbrink nannte beispielsweise den britischen Bombenangriff in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1942 eine Art „Gottesgericht“. Johannes Prassek verbreitete mit Hermann Lange und Eduard Müller Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen, der deutlich gegen die Nazi-Diktatur Stellung bezog; und auch in seinen Predigten benennt Prassek das Unrecht immer deutlicher. Ein Gemeindemitglied soll Johannes Prassek sogar gewarnt haben: „Herr Kaplan, wenn Sie so weitermachen, holt man Sie bald von der Kanzel herunter. Sie werden ins KZ kommen!“ Prassek lacht. Dann wird er ernst. „Habe ich denn nicht die Wahrheit gesagt?“ Und dann leise, wie zu sich selbst: „Wenn sie mich holen, tun sie nur das, worauf ich lange warte.“ (Vgl. Pelke 12).

Manch einer wird sie damals wohl für dumm oder leichtsinnig gehalten haben.

Aber mit Pastor Stellbrink und den befreundeten Kaplänen Lange und Müller ist Prassek sich einig: „Wir Priester müssen wenigstens den Mut haben, die Wahrheit zu sagen.“ (Vgl. Lösch mir die Augen aus [weiß] 36)

Damit macht Johannes Prassek deutlich, worum es ihm und seinen drei Freunden geht: Es geht um die Wahrheit. Es geht nicht um eine pubertäre Rebellion gegen Autoritäten und den Staat. Sondern es geht ihm um die Wahrheit. Und damit geht es ihm um den Menschen. Denn Unwahrheit macht unfrei und knechtet die Menschen.

Woher nimmt er, woher nehmen die anderen die Kraft und den Mut das zu tun? Die Wahrheit auszusprechen, wohl wissend, daß sie das das Leben kosten kann? Wie konnten sie ihrer Überzeugung treu bleiben, daß dieser Weg der für sie richtige ist?

Woher hatte Pastor Stellbrink die Kraft, seiner Überzeugung treu zu bleiben, nachdem seine Kirche ihn  hat fallen lassen? Wie sehr hat die Kapläne das Gerücht verunsichert, ihr Bischof Wilhelm Berning habe sich von ihnen abgewandt? [Nebenbei bemerkt ist es ja heute nicht unumstritten, ob Bischof Berning wirklich hinter dem Tun seiner Kapläne stand oder ihr Tun nicht doch vielleicht als das unüberlegte und leichtsinnige Verhalten großer Jungs angesehen hat?]

Von Johannes Prassek wird erzählt, nach dem Prozeß und dem Todesurteil sei es aus ihm herausgeplatzt: „Gott sei Dank, daß dieser Quatsch vorbei ist!“ Nach der Verurteilung schrieb er sogar an eine seine Schülerinnen: „Ich habe nur eine Sorge: Es könnte das Urteil vielleicht zurückgenommen werden. Die Enttäuschung wäre wohl fast zu groß.“ (Vgl. Pelke 54) Die Rücknahme des Todesurteiles wäre für Prassek und die anderen nicht das Geschenk des Lebens gewesen, sondern nur die Bestätigung dafür, daß man sie überhaupt nicht ernst genommen hätte. „Geistige Umnachtung“ oder „Unzurechnungsfähigkeit“ hätte man ihnen damit dann bescheinigt.

Unsere vier Märtyrer waren keine Politiker, die aufgrund ihrer politischen Überzeugungen in die Opposition zur Diktatur Adolf Hitlers gegangen waren. Sie waren Christen. Gläubige Männer, die davon überzeugt waren, daß unser Gott der Gott des Lebens ist. Daß unser Gott das Leben will; nicht nur für einige von der Staatsführung ausgesuchte, sondern für alle: egal welcher Religion oder Konfession, egal welcher Hautfarbe oder Nationalität, egal ob gesund oder behindert - einfach für alle! Angetrieben dabei hat sie ganz gewiß der Heilige Geist, den uns die Heilige Schrift unter anderem in dem Bild der Feuerzungen vor Augen führt. Ich bin davon überzeugt, daß der Heilige Geist das Feuer ist, daß Karl Friedrich Stellbrink, Eduard Müller, Hermann Lange und Johannes Prassek sozusagen Dampf unter dem Hintern gemacht hat. Sie konnten nicht still sitzen bleiben in ihren Pfarrhäusern. Sie mußten ihren Mund auftun und die Wahrheit aussprechen. Sie wollten gewiß niemanden absichtlich gefährden. Familie und Freunde sollten nicht mit hineingezogen werden. Aber die Kraft das Geistes, sein Feuer war so groß und mächtig, daß sie nicht anders konnten als reden. Ein Kochtopf, den man aufs Feuer stellt und dabei den Deckel fest drauf drückt, wird - bei genügend Einergiezufuhr - explodieren. So wäre es den Vieren mit Sicherheit auch ergangen, wenn sie geschwiegen hätten. Ihr Reden war aber kein reiner Selbstzweck, damit das Schweigen zum Nazi-Unrecht sie nicht innerlich zerreißt. Ihr Sprechen diente der Wahrheit, wie Prassek es formulierte, und damit den Menschen und Gott.

Ich glaube nicht, daß sie von uns angebetet oder verherrlicht werden wollen. Sie wollen bestimmt auch nicht, daß wir in Ehrfurcht erstarren vor ihrem Mut zu sprechen und die Wahrheit zu sagen.

Ich bin vielmehr davon überzeugt, daß sie das Feuer, daß sie angetrieben hat, mit uns teilen und an uns weitergeben wollen. Denn auch wir sind Christen, gläubige Menschen, die nicht ihren Mund stumm lassen sollten, wenn es um die Wahrheit geht, wenn es um Menschen geht, denen Unrecht getan wird. Lassen Sie uns wach und sensibel sein für unsere Zeit. Lassen Sie uns schauen, wo wir heute gefordert sind, unseren Mund zu öffnen.

Es kann doch nicht sein, daß wir schweigen, wenn Forscher Gott spielen wollen und mittels des Erbmaterials eines im Eis Sibiriens gefundenen Mammuts ein eben solches kloonen wollen; eine indische Elefantenkuh soll dann das Mammut gebären. So die Nachricht in den Medien letztens.

Es kann doch nicht sein, daß wir als Christen schweigen, wenn im Internet acht Fotomodelle für den Preis von 27.000 DM bis 270.000 DM ihre Eizellen verkaufen, damit Eltern sich den Wunsch eines „schönen“ Kindes erfüllen können.

Es kann doch nicht sein, daß wir als evangelische und katholische Kirche schweigen zum Thema Abtreibung. Daß wir schweigend hinnehmen, daß es trotz der Beratung zum Leben nicht gelingt, Frauen und Paaren in Konfliktsituationen eine Lebensperspektive für ein gemeinsames Leben mit ihrem Kind in unserem Land und in unserer Gesellschaft zu vermitteln. Und wenn die PDS in der Bundestagsdrucksache 13/397 die freie Entscheidung der Frauen in Sachen Abtreibung fordert, weil es zu den Persönlichkeitsrechten der Frau gehöre, ob sie eine Schwangerschaft austrägt oder nicht, dann wird jemand vergessen: nämlich das ungeborene Kind. Und da sind wir als Kirchen gefordert, unsere Stimme denen zu leihen, die keine haben oder nicht gehört werden.

Es kann doch nicht sein, daß unser Land Rüstungsexporte in Länder tätigt, wo die Menschenrechte oft genug mit Füßen getreten werden. Es kann doch nicht sein, daß Ausländerhaß und Antisemitismus als gesellschaftliche Erscheinungen heruntergespielt werden. Und es gibt mit Sicherheit noch viele andere Bereiche und Themen, wo zuviel geschwiegen wird. Dazu gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit unseren Parteien, mit allen Parteien: SPD wie PDS, CDU wie FDP, Bündnis 90 / Grüne und wie sie auch heißen mögen.

Wir sind die geistigen Erben der vier Lübecker Geistlichen. Und Erbe verpflichtet. Es ist nicht damit getan, daß wir Gedenkgottesdienste feiern; daß wir uns daran erinnern, was sie alles gesagt und getan haben; daß wir ihr Tun würdigen und loben. Das alles ist wichtig. Aber das Gedenken, das Engagement und der Mut von Johannes Prassek, Karl Friedrich Stellbrink, Eduard Müller und Hermann Lange wird nur verständlich, wenn wir dem Feuer auf die Spur kommen, das die Vier angetrieben hat. Das Feuer des Heiligen Geistes und des Glaubens, das sie selbst empfangen haben von den Menschen, die sie selbst zum Glauben an den Gott und Vater Jesu Christi geführt haben. Das Feuer, das sie getrieben hat zu sprechen anstatt zu schweigen. Dieses Feuer ist weitergegeben an uns. Wir haben es empfangen von unseren Eltern, Religionslehrerinnen und -lehrern, von unseren Pastorinnen und Pastoren oder wer immer uns den Glauben vermittelt hat. Es ist das gleiche Feuer des Glaubens, aus dem die Lübecker Märtyrer gelebt haben. An uns ist, sichtbar und deutlich zu machen, daß die Tradition unseres Glaubens, unserer Kirchen und unseres Gedächtnisses der Hinrichtung der Geistlichen Eduard Müller, Johannes Prassek, Hermann Lange und Karl Friedrich Stellbrink nicht die Anbetung der Asche ist, sondern eben die Weitergabe des Feuers. Amen.

 

 

 

Info


Kaplan Peter Otto, inzwischen Pfarrer, hielt die Predigt am 7. November 1999 in der Lutherkirche in Lübeck, der Gemeinde Pastor Stellbrinks. Er spricht über das Feuer des Glaubens, dass die Märtyrer weitergeben wollten, ja mussten, und das uns heute ebenso Verpflichtung ist.

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