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Kaplan Peter Otto: Wir dürfen nicht schweigen

Predigt am 4. November 2000 in Lübeck

Lesung: Dtn 6,2–6
Evangelium: Mt 12,28b–34

Liebe Brüder und Schwestern im Glauben!

Gespannte Stimmung herrscht in der Kirche. Was wird er wohl diesmal sagen? Die beiden Predigten vor zwei und drei Wochen hatten sich ja wie ein Lauffeuer durch die Stadt, ja sogar durch halb Deutschland verbreitet. „Mutig und provozierend“, sagten die Einen. „Leichtsinnig und unvorsichtig“, meinten die Anderen.

Der Löwe von Münster - so nannte man Bischof Clemens August Graf von Galen nach seinen Predigten, die er im Juli und August 1941 gehalten hatte. Dazu gedrängt wurde er durch die Tatsache, daß auf Anordnung Hitlers aus Heil- und Pflegeanstalten Pfleglinge abtransportiert wurden. Kurze Zeit später werden sie dann als verstorben gemeldet.

Bischof Galen nimmt auch in der dritten Predigt unverblümt Stellung. Er sagt zum Umgang des Dritten Reiches mit den sogenannten „unproduktiven Volksgenossen“:

„Sie können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das unheilbar lahm geworden ist, sie sind wie eine alte Kuh, die nicht mehr Milch gibt. Was tut man mit solch alter Maschine? Sie wird verschrottet! Was tut man mit einem lahmen Pferd, mit solch einem unproduktiven Stück Vieh? Nein, ich will den Vergleich nicht zu Ende führen, so furchtbar seine Berechtigung ist und seine Leuchtkraft. [...]

Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen. Aber haben sie damit das Recht auf Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden?“

Der Löwe von Münster hatte gebrüllt - und Hitlers Reichspropagandaminister Josef Goebbels notiert sich daraufhin Mitte August 1941 in sein Tagebuch:

„Man hat ja vom Katholizismus nicht viel für diesen Krieg erwartet; aber daß sich ein hoher Kirchenfürst dazu herablassen würde, Zutreiberdienste für den Feind zu leisten, das ist dann doch ein Verbrechen, das für den Staatsanwalt reif wäre.“

Aber nicht nur in Berlin hatte man die Predigten von Galens vernommen. Auch hier in Lübeck hatte man sie gelesen und vervielfältigt, verteilt und darüber gesprochen. Vorangetrieben hatte das vor allem Johannes Prassek, Kaplan hier an der Herz-Jesu-Kirche. Zusammen mit Karl Friedrich Stellbrink, dem Pastor der evangelischen Luther-Gemeinde, den beiden anderen Kaplänen an Herz Jesu, Hermann Lange und Eduard Müller, sowie anderen Leuten aus der Gemeinde diskutierte Prassek über die Galen-Predigten und die ihnen zugrunde liegenden Ereignisse. In seinen eigenen Predigten nimmt Johannes Prassek auch immer deutlicher Stellung. Er übt scharfe Kritik am Hitler-Regime. Gemeindemitglieder warnen Prassek: „Sie werden sich stark gefährden!“ Aber er kann nicht anders, und antwortet:

„Wir Priester müssen wenigstens den Mut haben, die Wahrheit zu sagen. Sonst glauben die Leute, das alles wäre in Ordnung. Was können sie mir schon tun?“

Sie konnten an den Lübeckern ein Exempel statuieren. Im Frühjahr 1942 durchsucht man das Pfarrhaus und verhaftet dann Ende Mai zuerst Johannes Prassek, Mitte Juni dann Hermann Lange, Eduard Müller sowie 18 weitere Personen. Der evangelische Pastor Stellbrink war schon im April verhaftet worden.

Im Juni 1943 werden sie in Lübeck durch den Volksgerichtshof verurteilt. Dessen zweite Kammer war eigens aus Berlin angereist und urteilte so:

„Im Namen des deutschen Volkes [...]. Die Angeklagten haben jeder Rundfunkverbrechen, landesverräterische Feindbegünstigung und Zersetzung der Wehrkraft begangen. [...] Die Angeklagten sind hartnäckige, fanatisierte und auch gänzlich unbelehrbare Hasser des nationalsozialistischen Staates. [...] Für solche Verbrecher am Volksganzen wie die Angeklagten Prassek, Lange und Müller kann es [...] nur die härteste Strafe geben, die das Gesetz zum Schutze des Volkes zuläßt: Die Todesstrafe.“

Danach platzt es aus Prassek heraus: „Gott sei Dank, daß dieser Quatsch vorbei ist!“

Auch Karl Friedrich Stellbrink wird zum Tode verurteilt. Die Urteile werden fünf Monate später in Hamburg vollstreckt. Am 10. November 1943 werden alle vier durch das Fallbeil hingerichtet. Johannes Prassek hatte zuvor auf das Titelblatt seiner Bibel geschrieben: „Wer sterben kann, wer will den zwingen?“ Das erinnert an die Predigt von Bischof Galen vom 3. August 1941, der ausgerufen hatte: „Lieber sterben als sündigen!“

Liebe Gemeinde, liebe Hörerinnen und Hörer! Wer so aufrecht der Wahrheit die Ehre geben will, braucht ein starkes Fundament. Die Lesung und das Evangelium bilden für mich einen wichtigen Schlüssel, um unsere vier Lübecker Märtyrer zu verstehen. In beiden Texten hatte es geheißen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ Und Jesus fügte hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“

Gottesliebe und Nächstenliebe haben den Münsteraner Bischof zu seinen mutigen Predigten gedrängt.

Gottesliebe und Nächstenliebe haben auch die Lübecker Märtyrer in Konflikt mit der Nazi-Diktatur geführt.

Wer Gott und den Nächsten wirklich liebt, der kann nicht schweigen, wenn die Rechte der Menschen, wenn das Recht auf Leben mit Füßen getreten wird.

Als Christen dürfen wir nicht unbeteiligte Zuschauer bleiben wie die drei berühmten Affen, die nichts sehen, nichts hören und demnach auch nichts sagen.

Unser Glaube zwingt uns also auch zur politischen Äußerung und ist damit untrennbar verbunden. Jesus Christus wurde als politischer Aufrührer verurteilt und ans Kreuz geschlagen; die vier Lübecker Märtyrer wurden ebenfalls als politische Aufrührer verurteilt und hingerichtet. Unser Glaube ist also alles andere als unpolitisch.

Wenn wir Jahr für Jahr hier in Lübeck der vier Geistlichen gedenken, dann ist das zugleich Erbe und Auftrag. Es ist ein Erbe, weil die vier hier gewirkt haben, weil hier in Lübeck noch die Urnen von Hermann Lange und Karl Friedrich Stellbrink stehen. Es ist aber auch Auftrag, weil das Gedenken die Verpflichtung beinhaltet, daß auch wir in unserer Zeit wach sind für das, was in Staat und Gesellschaft geschieht.

Als Christen, egal ob katholisch, evangelisch oder wie auch immer getauft, dürfen wir nicht schweigen, wenn Menschen tot getreten werden, weil sie als Obdachloser oder Ausländer einfach anders sind.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn Menschen ausgegrenzt werden oder das Recht auf Asyl in Frage gestellt wird.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn die vorgeburtliche medizinische Früherkennung zur Tötung eines ungeborenen Kindes rät, weil es behindert sein wird.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn die Sozialgesetze bei der Sorge für Alte und Behinderte nur noch ein Mindestmaß an körperlicher Pflege gewährleisten, der ganze Mensch mit Leib und Seele aber immer weniger Beachtung findet.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn der Wohlstand unseres Landes auf Kosten ärmerer Länder wächst, weil Konzerne anderswo die Menschen ausbeuten.

Das alles sind nur Beispiele für die vielen großen und kleinen, die weltpolitischen und alltäglichen Gelegenheiten, bei denen wir als Christen nicht schweigen dürfen. Um Gottes und der Menschen willen. Wo dabei meine und Ihre Aufgabe ist, das muß ein jeder und eine jede von uns selbst herausfinden. Vielleicht, in einem ersten Schritt, jetzt, in einem Augenblick der Besinnung. Amen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Predigt für den Rundfunkgottesdienst am So, den 5.11.2000

Lesung Dtn 6,2-6            Evangelium Mt 12,28b-34

 

 

Kaplan Peter Andreas Otto

 

Parade 4      23552 Lübeck

 

0451 / 70 987-20 [Fax 66]

 

Liebe Brüder und Schwestern im Glauben!

 

Gespannte Stimmung herrscht in der Kirche. Was wird er wohl diesmal sagen? Die beiden Predigten vor zwei und drei Wochen hatten sich ja wie ein Lauffeuer durch die Stadt, ja sogar durch halb Deutschland verbreitet. „Mutig und provozierend“, sagten die Einen. „Leichtsinnig und unvorsichtig“, meinten die Anderen.

Der Löwe von Münster - so nannte man Bischof Clemens August Graf von Galen nach seinen Predigten, die er im Juli und August 1941 gehalten hatte. Dazu gedrängt wurde er durch die Tatsache, daß auf Anordnung Hitlers aus Heil- und Pflegeanstalten Pfleglinge abtransportiert wurden. Kurze Zeit später werden sie dann als verstorben gemeldet.

Bischof Galen nimmt auch in der dritten Predigt unverblümt Stellung. Er sagt zum Umgang des Dritten Reiches mit den sogenannten „unproduktiven Volksgenossen“:

 

„Sie können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das unheilbar lahm geworden ist, sie sind wie eine alte Kuh, die nicht mehr Milch gibt. Was tut man mit solch alter Maschine? Sie wird verschrottet! Was tut man mit einem lahmen Pferd, mit solch einem unproduktiven Stück Vieh?

Nein, ich will den Vergleich nicht zu Ende führen, so furchtbar seine Berechtigung ist und seine Leuchtkraft. [...]

Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen. Aber haben sie damit das Recht auf Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden?“

 

Der Löwe von Münster hatte gebrüllt - und Hitlers Reichspropagandaminister Josef Goebbels notiert sich daraufhin Mitte August 1941 in sein Tagebuch:

 

„Man hat ja vom Katholizismus nicht viel für diesen Krieg erwartet; aber daß sich ein hoher Kirchenfürst dazu herablassen würde, Zutreiberdienste für den Feind zu leisten, das ist dann doch ein Verbrechen, das für den Staatsanwalt reif wäre.“

 

Aber nicht nur in Berlin hatte man die Predigten von Galens vernommen. Auch hier in Lübeck hatte man sie gelesen und vervielfältigt, verteilt und darüber gesprochen. Vorangetrieben hatte das vor allem Johannes Prassek, Kaplan hier an der Herz-Jesu-Kirche. Zusammen mit Karl Friedrich Stellbrink, dem Pastor der evangelischen Luther-Gemeinde, den beiden anderen Kaplänen an Herz Jesu, Hermann Lange und Eduard Müller, sowie anderen Leuten aus der Gemeinde diskutierte Prassek über die Galen-Predigten und die ihnen zugrunde liegenden Ereignisse. In seinen eigenen Predigten nimmt Johannes Prassek auch immer deutlicher Stellung. Er übt scharfe Kritik am Hitler-Regime. Gemeindemitglieder warnen Prassek: „Sie werden sich stark gefährden!“ Aber er kann nicht anders, und antwortet:

 

„Wir Priester müssen wenigstens den Mut haben, die Wahrheit zu sagen. Sonst glauben die Leute, das alles wäre in Ordnung. Was können sie mir schon tun?“

 

Sie konnten an den Lübeckern ein Exempel statuieren. Im Frühjahr 1942 durchsucht man das Pfarrhaus und verhaftet dann Ende Mai zuerst Johannes Prassek, Mitte Juni dann Hermann Lange, Eduard Müller sowie 18 weitere Personen.

Der evangelische Pastor Stellbrink war schon im April verhaftet worden.

Im Juni 1943 werden sie in Lübeck durch den Volksgerichtshof verurteilt. Dessen zweite Kammer war eigens aus Berlin angereist und urteilte so:

 

„Im Namen des deutschen Volkes [...]. Die Angeklagten haben jeder Rundfunkverbrechen, landesverräterische Feindbegünstigung und Zersetzung der Wehrkraft begangen. [...] Die Angeklagten sind hartnäckige, fanatisierte und auch gänzlich unbelehrbare Hasser des nationalsozialistischen Staates. [...] Für solche Verbrecher am Volksganzen wie die Angeklagten Prassek, Lange und Müller kann es [...] nur die härteste Strafe geben, die das Gesetz zum Schutze des Volkes zuläßt: Die Todesstrafe.“

 

Danach platzt es aus Prassek heraus: „Gott sei Dank, daß dieser Quatsch vorbei ist!“

 

Auch Karl Friedrich Stellbrink wird zum Tode verurteilt. Die Urteile werden fünf Monate später in Hamburg vollstreckt. Am 10. November 1943 werden alle vier durch das Fallbeil hingerichtet. Johannes Prassek hatte zuvor auf das Titelblatt seiner Bibel geschrieben: „Wer sterben kann, wer will den zwingen?“ Das erinnert an die Predigt von Bischof Galen vom 3. August 1941, der ausgerufen hatte: „Lieber sterben als sündigen!“

 

Liebe Gemeinde, liebe Hörerinnen und Hörer!

Wer so aufrecht der Wahrheit die Ehre geben will, braucht ein starkes Fundament. Die Lesung und das Evangelium bilden für mich einen wichtigen Schlüssel, um unsere vier Lübecker Märtyrer zu verstehen. In beiden Texten hatte es geheißen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ Und Jesus fügte hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“

Gottesliebe und Nächstenliebe haben den Münsteraner Bischof zu seinen mutigen Predigten gedrängt.

Gottesliebe und Nächstenliebe haben auch die Lübecker Märtyrer in Konflikt mit der Nazi-Diktatur geführt.

Wer Gott und den Nächsten wirklich liebt, der kann nicht schweigen, wenn die Rechte der Menschen, wenn das Recht auf Leben mit Füßen getreten wird.

Als Christen dürfen wir nicht unbeteiligte Zuschauer bleiben wie die drei berühmten Affen, die nichts sehen, nichts hören und demnach auch nichts sagen.

Unser Glaube zwingt uns also auch zur politischen Äußerung und ist damit untrennbar verbunden. Jesus Christus wurde als politischer Aufrührer verurteilt und ans Kreuz geschlagen; die vier Lübecker Märtyrer wurden ebenfalls als politische Aufrührer verurteilt und hingerichtet. Unser Glaube ist also alles andere als unpolitisch.

Wenn wir Jahr für Jahr hier in Lübeck der vier Geistlichen gedenken, dann ist das zugleich Erbe und Auftrag.

Es ist ein Erbe, weil die vier hier gewirkt haben, weil hier in Lübeck noch die Urnen von Hermann Lange und Karl Friedrich Stellbrink stehen.

Es ist aber auch Auftrag, weil das Gedenken die Verpflichtung beinhaltet, daß auch wir in unserer Zeit wach sind für das, was in Staat und Gesellschaft geschieht.

Als Christen, egal ob katholisch, evangelisch oder wie auch immer getauft, dürfen wir nicht schweigen, wenn Menschen tot getreten werden, weil sie als Obdachloser oder Ausländer einfach anders sind.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn Menschen ausgegrenzt werden oder das Recht auf Asyl in Frage gestellt wird.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn die vorgeburtliche medizinische Früherkennung zur Tötung eines ungeborenen Kindes rät, weil es behindert sein wird.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn die Sozialgesetze bei der Sorge für Alte und Behinderte nur noch ein Mindestmaß an körperlicher Pflege gewährleisten, der ganze Mensch mit Leib und Seele aber immer weniger Beachtung findet.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn der Wohlstand unseres Landes auf Kosten ärmerer Länder wächst, weil Konzerne anderswo die Menschen ausbeuten.

Das alles sind nur Beispiele für die vielen großen und kleinen, die weltpolitischen und alltäglichen Gelegenheiten, bei denen wir als Christen nicht schweigen dürfen. Um Gottes und der Menschen willen. Wo dabei meine und Ihre Aufgabe ist, das muß ein jeder und eine jede von uns selbst herausfinden. Vielleicht, in einem ersten Schritt, jetzt, in einem Augenblick der Besinnung. Amen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Predigt für den Rundfunkgottesdienst am So, den 5.11.2000

Lesung Dtn 6,2-6            Evangelium Mt 12,28b-34

 

Liebe Brüder und Schwestern im Glauben!

 

Gespannte Stimmung herrscht in der Kirche. Was wird er wohl diesmal sagen? Die beiden Predigten vor zwei und drei Wochen hatten sich ja wie ein Lauffeuer durch die Stadt, ja sogar durch halb Deutschland verbreitet. „Mutig und provozierend“, sagten die Einen. „Leichtsinnig und unvorsichtig“, meinten die Anderen.

Der Löwe von Münster - so nannte man Bischof Clemens August Graf von Galen nach seinen Predigten, die er im Juli und August 1941 gehalten hatte. Dazu gedrängt wurde er durch die Tatsache, daß auf Anordnung Hitlers aus Heil- und Pflegeanstalten Pfleglinge abtransportiert wurden. Kurze Zeit später werden sie dann als verstorben gemeldet.

Bischof Galen nimmt auch in der dritten Predigt unverblümt Stellung. Er sagt zum Umgang des Dritten Reiches mit den sogenannten „unproduktiven Volksgenossen“:

 

„Sie können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das unheilbar lahm geworden ist, sie sind wie eine alte Kuh, die nicht mehr Milch gibt. Was tut man mit solch alter Maschine? Sie wird verschrottet! Was tut man mit einem lahmen Pferd, mit solch einem unproduktiven Stück Vieh?

Nein, ich will den Vergleich nicht zu Ende führen, so furchtbar seine Berechtigung ist und seine Leuchtkraft. [...]

Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen. Aber haben sie damit das Recht auf Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur solange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden?“

 

Der Löwe von Münster hatte gebrüllt - und Hitlers Reichspropagandaminister Josef Goebbels notiert sich daraufhin Mitte August 1941 in sein Tagebuch:

 

„Man hat ja vom Katholizismus nicht viel für diesen Krieg erwartet; aber daß sich ein hoher Kirchenfürst dazu herablassen würde, Zutreiberdienste für den Feind zu leisten, das ist dann doch ein Verbrechen, das für den Staatsanwalt reif wäre.“

 

Aber nicht nur in Berlin hatte man die Predigten von Galens vernommen. Auch hier in Lübeck hatte man sie gelesen und vervielfältigt, verteilt und darüber gesprochen. Vorangetrieben hatte das vor allem Johannes Prassek, Kaplan hier an der Herz-Jesu-Kirche. Zusammen mit Karl Friedrich Stellbrink, dem Pastor der evangelischen Luther-Gemeinde, den beiden anderen Kaplänen an Herz Jesu, Hermann Lange und Eduard Müller, sowie anderen Leuten aus der Gemeinde diskutierte Prassek über die Galen-Predigten und die ihnen zugrunde liegenden Ereignisse. In seinen eigenen Predigten nimmt Johannes Prassek auch immer deutlicher Stellung. Er übt scharfe Kritik am Hitler-Regime. Gemeindemitglieder warnen Prassek: „Sie werden sich stark gefährden!“ Aber er kann nicht anders, und antwortet: „Was können sie mir schon tun?“

 

Sie konnten an den Lübeckern ein Exempel statuieren. Im Frühjahr 1942 durchsucht man das Pfarrhaus und verhaftet dann Ende Mai zuerst Johannes Prassek, Mitte Juni dann Hermann Lange, Eduard Müller sowie 18 weitere Personen.

Der evangelische Pastor Stellbrink war schon im April verhaftet worden.

Im Juni 1943 werden sie in Lübeck durch den Volksgerichtshof verurteilt. Dessen zweite Kammer war eigens aus Berlin angereist und urteilte so:

 

„Im Namen des deutschen Volkes [...]. Die Angeklagten haben jeder Rundfunkverbrechen, landesverräterische Feindbegünstigung und Zersetzung der Wehrkraft begangen. [...] Die Angeklagten sind hartnäckige, fanatisierte und auch gänzlich unbelehrbare Hasser des nationalsozialistischen Staates. [...] Für solche Verbrecher am Volksganzen wie die Angeklagten Prassek, Lange und Müller kann es [...] nur die härteste Strafe geben, die das Gesetz zum Schutze des Volkes zuläßt: Die Todesstrafe.“

 

Danach platzt es aus Prassek heraus: „Gott sei Dank, daß dieser Quatsch vorbei ist!“

 

Auch Karl Friedrich Stellbrink wird zum Tode verurteilt. Die Urteile werden fünf Monate später in Hamburg vollstreckt. Am 10. November 1943 werden alle vier durch das Fallbeil hingerichtet. Johannes Prassek hatte zuvor auf das Titelblatt seiner Bibel geschrieben: „Wer sterben kann, wer will den zwingen?“ Das erinnert an die Predigt von Bischof Galen vom 3. August 1941, der ausgerufen hatte: „Lieber sterben als sündigen!“

 

Liebe Gemeinde, liebe Hörerinnen und Hörer!

Wer so aufrecht der Wahrheit die Ehre geben will, braucht ein starkes Fundament. Die Lesung und das Evangelium bilden für mich einen wichtigen Schlüssel, um unsere vier Lübecker Märtyrer zu verstehen. In beiden Texten hatte es geheißen: „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“ Und Jesus fügte hinzu: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist größer als diese beiden.“

Gottesliebe und Nächstenliebe haben den Münsteraner Bischof zu seinen mutigen Predigten gedrängt.

Gottesliebe und Nächstenliebe haben auch die Lübecker Märtyrer in Konflikt mit der Nazi-Diktatur geführt.

Wer Gott und den Nächsten wirklich liebt, der kann nicht schweigen, wenn die Rechte der Menschen, wenn das Recht auf Leben mit Füßen getreten wird.

Als Christen dürfen wir nicht unbeteiligte Zuschauer bleiben wie die drei berühmten Affen, die nichts sehen, nichts hören und demnach auch nichts sagen.

Unser Glaube zwingt uns also auch zur politischen Äußerung und ist damit untrennbar verbunden. Jesus Christus wurde als politischer Aufrührer verurteilt und ans Kreuz geschlagen; die vier Lübecker Märtyrer wurden ebenfalls als politische Aufrührer verurteilt und hingerichtet. Unser Glaube ist also alles andere als unpolitisch.

Wenn wir Jahr für Jahr hier in Lübeck der vier Geistlichen gedenken, dann ist das zugleich Erbe und Auftrag.

Es ist ein Erbe, weil die vier hier gewirkt haben, weil hier in Lübeck noch die Urnen von Hermann Lange und Karl Friedrich Stellbrink stehen.

Es ist aber auch Auftrag, weil das Gedenken die Verpflichtung beinhaltet, daß auch wir in unserer Zeit wach sind für das, was in Staat und Gesellschaft geschieht.

Als Christen, egal ob katholisch, evangelisch oder wie auch immer getauft, dürfen wir nicht schweigen, wenn Menschen tot getreten werden, weil sie als Obdachloser oder Ausländer einfach anders sind.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn Menschen ausgegrenzt werden oder das Recht auf Asyl in Frage gestellt wird.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn die vorgeburtliche medizinische Früherkennung zur Tötung eines ungeborenen Kindes rät, weil es behindert sein wird.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn die Sozialgesetze bei der Sorge für Alte und Behinderte nur noch ein Mindestmaß an körperlicher Pflege gewährleisten, der ganze Mensch mit Leib und Seele aber immer weniger Beachtung findet.

Wir dürfen nicht schweigen, wenn der Wohlstand unseres Landes auf Kosten ärmerer Länder wächst, weil Konzerne anderswo die Menschen ausbeuten.

Das alles sind nur Beispiele für die vielen großen und kleinen, die weltpolitischen und alltäglichen Gelegenheiten, bei denen wir als Christen nicht schweigen dürfen. Um Gottes und der Menschen willen. Wo dabei meine und Ihre Aufgabe ist, das muß ein jeder und eine jede von uns selbst herausfinden. Vielleicht, in einem ersten Schritt, jetzt, in einem Augenblick der Besinnung. Amen.

 

 

Info


Kaplan Peter Otto, inzwischen Pfarrer, hielt diese Predigt anlässlich eines Rundfunkgottesdienstes am 4./5. November 2000 in Lübeck. Er nennt alltägliche Situationen, in denen von Christen offene Worte und Handeln gefragt sind.

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