Pröpstin Petra Kallies: Ökumenisches Zeugnis
Predigt am 7. November 2010 in Lübeck
Jesus Christus
– gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit!
Amen.
Liebe Schwestern und Brüder,
woran kann man erkennen, dass eine Glaubensgemeinschaft, die sich „christlich“ nennt, auch wirklich Kirche Jesu Christi ist? Das ist keine moderne Frage, sondern beschäftigte die Gemeinden schon in den Anfängen. Damals, in den ersten vier Jahrhunderten, gab es eine ähnliche Vielfalt an christlichen Glaubensformen und Gemeinschaften wie heute. Relativ schnell einigte man sich auf die sogenannten vier „Kennzeichen der Kirche“:
- Leiturgia – Liturgie – Kirche feiert Gottesdienste zum Lobe des Herrn, mit Gesang, Bibellesung, Gebet und Abendmahl.
- Koinonia – Gemeinschaft – Christen beten und feiern gemeinsam; es kommt nicht jeder irgendwann in die Kirche, spricht seine Gebete und geht wieder seiner Wege. Kirche ist auf konkrete Gemeinschaft, auf Begegnung untereinander angelegt.
- Diakonia – die Gemeinde kümmert sich um die Bedürftigen: Kranke, Arme, Gefangene, Sterbende, Traurige, Verzweifelte. Eine Gemeinde, die die tätige Nächstenliebe aus dem Blick verloren hat, verliert ihren Anspruch, Kirche zu sein.
- Martyria – Zeugenschaft. Hierher kommt das Wort „Märtyrer“. Eigentlich bezeichnet der Begriff etwas ganz Weltliches: ein Martys, ein Märtyrer, ist ein Zeuge, der vor Gericht aussagt: „War es so, oder war es so?“
Christen bezeugen ihren Glauben; nicht nur mit Taten (also: nach christlichen Werten leben), sondern auch mit ihren Worten. Sie geben Auskunft. Sie erzählen von ihrem Glauben, davon was sie trägt, was ihnen Halt gibt. Nach welchen Werten sie leben: Nächstenliebe. Friedfertigkeit. So gesehen, ist Martyria, die Zeugenschaft, eng verbunden mit Mission: gib Auskunft über deinen Glauben, sag die Frohe Botschaft weiter.
Als die junge Kirche verfolgt wurde, erfuhr der Begriff eine Zuspitzung, oder Engführung, je nachdem. Er wurde zu einer Bezeichnung für das Blutzeugnis. Für Menschen, die wegen ihres Glaubens verfolgt, gefoltert und ermordet wurden. Für Menschen, die „Christus nicht verleugneten, sondern sich zu ihm bekannten“.
In der evangelischen Kirche haben wir den Bezug zum Märtyrerbegriff verloren. Er muss immer wieder neu eingeführt und erklärt werden; auch hier in der Luther-Melanchthon-Gemeinde, obwohl seit 1993 jährlich der Gedenkgottesdienst stattfindet und die Ausstellung über die Lübecker Märtyrer auf der Empore ihren Platz gefunden hat.
Heute erinnern wir uns. Wir erzählen von den vier Geistlichen, drei katholischen Kaplänen (Jungpriestern) und dem evangelischen Pastor der Lutherkirche: wir erzählen von Eduard Müller, Johannes Prassek, Hermann Lange und Karl Friedrich Stellbrink. Wir erinnern uns auch an die katholischen 18 Laien, Nicht-Theologen, die mit ihnen zusammen angeklagt waren. Sie haben überlebt – doch genauso wie die Geistlichen haben sie zu ihrem Glauben gestanden, Christus bekannt. Und wir erinnern uns an alle, die sie unterstützt haben, Familien, Freunde, Gemeindeglieder, die damit auch ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt haben. Denn Martyria, die Zeugenschaft, sie beginnt nicht erst mit einer weltlichen Anklageschrift, nicht erst mit einem Gerichtsverfahren. Sie beginnt da, wo jemand aus seiner Glaubensüberzeugung heraus folgenschwere Entscheidungen trifft. „Wer mir nachfolgen will, spricht Christus, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“
Der November ist die Zeit des Erinnerns: an die Opfer von Terror, von Krieg und von Vertreibung. An die Reichspogromnacht. Am Volkstrauertag. Erschüttert nehmen wir wahr, zu welcher Bosheit Menschen auch im vermeintlich aufgeklärten, modernen Europa fähig sind. Erschüttert nehmen wir wahr, wie schnell ein Terrorregime die Macht übernehmen und binnen weniger Monate seine Kritiker zum Schweigen bringen kann. Erschüttert gedenken wir der vielen Millionen Opfer – in Konzentrationslagern, von systematischer Ermordung, von Krieg und Vertreibung. Mit Scham nehmen wir wahr, wie schnell nach dem Krieg die Schuld und die Mitverantwortung verdrängt und geleugnet wurden. Wir bemühen uns, aus der Vergangenheit für die Gegenwart und für die Zukunft zu lernen. Wehret den Anfängen! Nie wieder Krieg und Gewaltherrschaft! Und wir lassen uns erinnern, dass es auch anders gehen kann – dass auch in jenen dunklen Jahren Menschen eingetreten sind für ihren Glauben und ihre politische Überzeugung – sie bezeugt haben, mit Leib und Leben.
Am 10. November jährt sich der Todestag der Lübecker Märtyrer zum 67. Mal. Manche fragen: „Das alles ist schon so lange her. Was hat das denn noch mit uns zu tun? Das ist doch alles Geschichte.“ Wir merken es: unser Gedenken verändert sich; die Zeitzeugen, also Menschen, die die vier Geistlichen noch gekannt haben, werden weniger. Wir Nachgeborenen brauchen einen anderen Zugang, uns fehlen die persönlichen Erinnerungen. Und doch ragen die Märtyrer immer noch in unser Leben, in unseren Alltag hinein, auch außerhalb der Zeit des Erinnerns. Es gibt viele Beispiele, ich will Sie heute auf ein kleines Beispiel hinweisen; Lübecker Tagesgeschehen 2010. In Schlutup gab es, wie auch noch in anderen Stadtteilen, während des Krieges Rüstungsindustrie. Munitionsfabriken. Die Fabrikanten sorgten für Nachschub, und verdienten gut damit. Ihre Arbeiter waren zumeist Zwangsarbeiter; Menschen, die aus ihrer Heimat verschleppt worden waren, und nun die Waffen herstellen mussten, mit denen ihre Familien und Freunde beschossen wurden. Sie waren rechtlos; das galt auch für ihren Glauben. Es war, auch, den katholischen Polinnen verboten, zur Beichte zu gehen. Kaplan Johannes Prassek lernte polnisch und traf sich heimlich mit ihnen, um sie seelsorgerlich zu begleiten. Damit riskierte er sein Leben. Er hat nach seinem Gewissen gehandelt, das getan, was einer seiner Hauptaufgaben als Priester war: Seelsorge für die Kinder Gottes.
65 Jahre später. In Schlutup ist eine Straße nach dem Inhaber der Fabrik, Günther Quandt benannt; eine Ehrung vor 73 Jahren durch die Nazis. Jetzt möchte eine Bürgerinitiative den Platz umbenennen lassen. Diese Initiative wird engagiert diskutiert; da geht es nicht nur um die Bewertung des Mitläufertums oder des vom-Krieg-Profitierens. Beschämend sind manche Argumente gegen die Umbenennung. Es geht den Gegnern auch darum, dass die Änderung des Straßennamens Umstände und Kosten für die heutigen Anwohner verursachen könnte. Dass die Umbenennung eine späte Geste an die Zwangsarbeiter ist: wir haben Euer Elend nicht vergessen. Wir haben nicht vergessen, dass Ihr rechtlos unter uns leben musstet. Dass Euch nicht einmal Euer Glaubensleben und der Trost der Beichte gestattet wurde; das wird beiseite geschoben. Wir brauchen diese Zeit des Erinnerns – für unsere Gegenwart und Zukunft!
Liebe Schwestern und Brüder, nun könnte ich „Amen!“ sagen und hätte damit eine schwierige Klippe umschifft, um die wir uns meiner Meinung nach aber nicht drücken können. Im kommenden Juni, 68 Jahre und zwei Tage nach dem Todesurteil über die vier Geistlichen, wird in Lübeck die Seligsprechung der drei Kapläne stattfinden. Der Wunsch nach der Seligsprechung bestand schon seit vielen Jahren, aber immer wieder gab es auch Stimmen, die davon abrieten – aus Sorge, dass die ökumenische Einheit der vier dadurch auseinander gerissen würde. „Sag niemals drei – sag immer vier!“ Dieser Satz Adolf Erdtmanns war und ist uns Verpflichtung.
„Die evangelische Kirche kennt die Seligsprechung nicht“ hat Erzbischof Werner Thissen in seinem Grußwort auf der Nordkirchensynode gesagt. Das ist theologische Diplomatensprache. Eigentlich ist gemeint: „In der evangelischen Kirche gibt es keine Seligsprechung.“ Aus gutem Grund, so meinen wir, denn, so schreibt es die Kongregation für Selig- und Heiligsprechungsprozesse: „Jede Seligsprechung ist ein Akt des Papstes, der die lokale Verehrung eines Dieners Gottes erlaubt und der seine Entscheidung durch ein Apostolisches Schreiben der Öffentlichkeit bekannt gibt.“ Das passt nicht zum evangelischen Kirchenverständnis. Doch nun ist es entschieden; die Seligsprechung wird stattfinden. Gemeinsam müssen und werden wir einen Weg finden, das Verbindende zusammen zu halten. Die vier Lübecker Märtyrer waren Pioniere der Ökumene. Was uns, zumindest hier in Lübeck, heute so selbstverständlich erscheint: gemeinsame Gottesdienste am Schulanfang oder Seniorenausflüge, ökumenische Trauungen, das Aufstehen gegen die Propaganda der Neonazis, der ökumenische Kreuzweg am Karfreitag u.v.a.m., das wäre zu ihrer Zeit undenkbar gewesen. Ihr geschwisterlicher Zusammenhalt war auch eine Vision für die Kirche – wie es sein könnte und wie es sein sollte!
Nach dem Krieg war die Ökumene ein zartes Pflänzchen, das gemeinsam gepflegt und geschützt wurde und wird. Manche Themen hat man dabei bewusst ausgeklammert: das Kirchen- und Amtsverständnis, und das gemeinsame Abendmahl. Denn wir wissen: das wird schwierig.
Dieses Vorgehen ist richtig gewesen, denn in der Begegnung, in Gesprächen und in dem, was gemeinsam gut getan werden kann, ist persönliches Vertrauen gewachsen. Die Beziehungen sind belastbarer geworden. Vielleicht ist die Zeit reif, uns an schwierigere Aufgaben zu wagen.
Denn wenn wir das Erbe der Märtyrer betrachten, dann wird es auf Dauer nicht mehr reichen, als Fazit zu ziehen: „Wenn es hart auf hart kommt, wenn es um Leben und Tod geht, dann stehen Christinnen und Christen zusammen!“
In Deutschland am Beginn des 21. Jh., in einer Welt, in der immer weniger Menschen wie selbstverständlich in den christlichen Glauben hineinwachsen und erzogen werden, wird die Martyria, die Zeugenschaft, eine immer größere Herausforderung an die Kirchen.
Ich wünsche mir, dass wir Evangelischen die Seligsprechung der drei Kapläne nicht nur als „innerkatholische Angelegenheit“ hinnehmen. Das wird dem Erbe der vier Lübecker Märtyrer nicht gerecht. Es muss uns zu mehr Gemeinsamkeit führen!
Wie bezeugen wir als Christinnen und Christen unseren Glauben vor der Welt? Es reicht nicht mehr aus, nur gut nachbarschaftlich miteinander zu leben. Ob es uns eines Tages doch noch gelingt, eine ökumenische Schule mit ökumenischem Religionsunterricht auf den Weg zu bringen? Ob es uns eines Tages gelingt, gemeinsam das Abendmahl zu feiern, das sichtbare Zeichen der Gemeinschaft mit Gott und untereinander?
Wie bezeugen wir, dass unser Glaube Berge versetzen kann, dass wir mit unserem Gott Mauern überspringen können, wie bezeugen wir das glaubwürdig nicht nur als Nachbarn, sondern als Schwestern und Brüder, als Mitglieder der einen Familie Gottes?
In der Seligsprechung, so schwierig sie uns Evangelischen erscheinen mag, liegt auch eine große Chance für die Ökumene. Johannes Prassek, Eduard Müller, Hermann Lange und Karl Friedrich Stellbrink sind uns ihrer Verbundenheit weit voraus. „Ihre gelebte Ökumene ist ein prophetisches Zeichen“, hat es der Zeitzeuge Prof. Stefan Pfürtner einmal formuliert. In ihrem Vorbild liegt eine Verheißung: die christliche Einheit in der Vielfalt der Formen.
So wollen wir Gott um Weisheit bitten, die passenden Worte zu finden, die richtigen nächsten Schritte zu tun, um die Kraft, Trennendes auszuhalten und um den Mut, Neues zu wagen.
Amen.