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Bischof Gerhard Ulrich: Durchlittene Ökumene

Predigt in der Lutherkirche am 24. Juni 2011

I

Liebe Schwestern und Brüder!

„Sag niemals drei, sag immer vier!“ – so brachte es Adolf Ehrtmann auf den Punkt. Der Satz des ehemaligen Mithäftlings der vier Lübecker Geistlichen ist zu einem richtungweisenden Satz geworden für alle, die das gemeinsame ökumenische Gedenken an die vier Lübecker Märtyrer über Jahrzehnte lebendig gehalten haben. „Sag niemals drei, sag immer vier“ – das empfinde ich auch als Verpflichtung an uns, wenn wir heute und morgen der vier gedenken und drei von ihnen selig gesprochen werden. Die vier selbst mahnen uns, dass wir zusammen halten  das Gedächtnis der vier – in der einen Seligsprechung, die sie miteinander und uns mit ihnen verbindet: die Taufe, die uns zur Gemeinschaft der Heiligen macht; zur Gemeinschaft derer, die zu Jesus gehören, der sagt: selig sind die Friedfertigen, selig sind, die um meinetwillen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Reich der Himmel. Das ist die Herausforderung dieser Tage: dass, wenn wir auf verschiedene Weise der vier gedenken, wir auf das Gemeinsame verweisen, wie Johannes es tut: auf Jesus, den Vollender und Anfänger. Denn: ein Mensch kann nichts nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben ist, heißt es im Johannesevangelium!

Der Leidensweg der drei Kapläne Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek und des Pastors Karl Friedrich Stellbrink ist beispielhaft für eine Ökumene der Märtyrer. Ein Martyrium der Ökumene unter dem Kreuz Jesu! Das Bleiben bei Christus und die Teilnahme an seinem Leiden in dieser Welt hatte die vier zueinander finden lassen und Fürbitte und Fürsorge füreinander gefestigt. Im gemeinsamen Gebet wuchs den Vieren Kraft zu, den Widerstand zu wagen; im Hören auf Gottes Wort fanden sie Orientierung; in brüderlicher Beratung wuchs der Geist der Liebe gegen alle Verzagtheit.

Ich finde diese Verbundenheit mit dem leidenden Christus eindrücklich beschrieben in einem von Johannes Prassek formulierten Gebet, das er kurz vor dem Prozess in seine Ausgabe des Neuen Testaments geschrieben hat. Es heißt dort

„Ich nehme auf mich das Kreuz.
In deiner Kraft, mein Herr und Heiland,
nehme ich auf mich das Schwere,
das Gott mir zugedacht,
mit Dir spreche ich zum Vater im Himmel.
Dein Wille geschehe.
Dein Wille geschehe in mir und durch mich.“ [1]

Für mich gibt diese durchlebte und durchlittene Ökumene unter dem Kreuz eine deutliche Richtung an auch für uns, liebe Schwestern und Brüder heute: Je näher wir zu Christus kommen, desto näher kommen wir einander! Auch bei allen weiter bestehenden Differenzen zwischen den christlichen Konfessionen kann gesagt werden: Das, was uns verbindet, ist stärker als das, was uns trennt! So jedenfalls verstehe ich das Glaubenszeugnis der vier Lübecker Märtyrer als einen aufrüttelnden Ruf nach vorwärts! Also nicht nachzulassen mit allen Bemühungen, das Trennende zu überwinden und zu einem geschwisterlichen Miteinander zu kommen; also wahr und wirklich werden zu lassen die Einheit, die in Christus selbst schon grundgelegt ist. Denn diese Welt hat ein Recht darauf, zu hören, was wir für wahr erkannt haben. Diese Welt hat einen Anspruch darauf, von uns mit einer Stimme und einer Sprache zu erfahren von dem, dessen Frieden höher ist als all unsere menschliche Vernunft!

Für den evangelischen Pastor Karl Friedrich Stellbrink lässt es sich ja mit Sicherheit sagen: Die Hinwendung zu dem gekreuzigten Christus war zugleich eine Abkehr von der nationalsozialistischen Wahnvorstellung eines „heldischen Jesus“. Die Hinwendung zu dem gekreuzigten Christus war zugleich eine Abkehr von der nationalsozialistischen Wahnvorstellung eines „arischen Christus“. Die Hinwendung zu dem gekreuzigten Christus war zugleich eine Abkehr vom anti-katholischen Affekt gegen die „römischen Pfaffen“, der auch hier in Lübeck gegenwärtig war. Der Weg des Widerstands war für ihn mehr und mehr ein Weg in die Freiheit geworden. So jedenfalls kann man seine Briefe, die erhalten geblieben auch lesen: Je näher wir zu Christus kommen, desto näher kommen wir zueinander!

II

An einen ganz anderen Märtyrer und Aufrüttler, liebe Schwestern und Brüder, denken wir heute in der weltweiten Christenheit auch noch. Ich meine Johannes, den Täufer. An dem Tag, am 24. Juni, in dessen Mittelpunkt für uns Christen jener steht, der Jesus den Weg bereitet, der ihm vorausgeht.  

So heißt es im Lobgesang des Zacharias: Mit ihm, Johannes, hat Gott sein Volk besucht. „...du wirst dem Herrn vorangehen, seine Wege zu bereiten. Darin wird uns der Sonnenaufgang aus der Höhe besuchen, um denen aufzustrahlen, die in Finsternis und Todesschatten sitzen...“

Wir wissen, dass es immer eine besondere Nähe zwischen Jesus und Johannes gegeben hat: beide verkündigen Buße und rufen zur Umkehr; beide sammeln Jünger um sich; beide sind in ihrer Zeit nicht nur Mahner, sondern auch Störenfriede der Mächtigen. Johannes landet als Querulant und Freigeist im Gefängnis, weil er nicht aufhört, auf Ungerechtigkeit, Vertreibung, Gottlosigkeit hinzuweisen.

Johannes macht deutlich, worum es im Glauben neben aller Andacht vor allem geht: um Klarheit, Wahrhaftigkeit; um Eindeutigkeit. Johannes, der Rufer in der Wüste. Ein Prophet, zu dem die Menschen strömen. Und Johannes redet deutliche Worte. Es packt ihn der Heilige Zorn, wenn er sieht, wohin die Menschen treiben ohne Gott. „Ihr Schlangenbrut, wer hat euch gewiss gemacht, dass ihr dem zukünftigen Zorn entrinnen werdet“, so nimmt er sich die Menschen vor. „Ihr Schlangenbrut“: ihr, die ihr euch eingerichtet habt in Reichtum und Macht: denkt nicht, dass das Gott gefällt. Nein, auch mit der Taufe allein, mit dem Bekennen der Lippen allein ist es nicht getan. Gott will mehr von uns: er will, dass wir unser Leben erneuern, täglich. Dass wir uns entscheiden, uns zur Entscheidung rufen lassen, welchem Herrn wir dienen wollen! Und dazu sind wir gesandt: zu bereiten dem Herrn den Weg in der Wüste des Lebens. Den Weg bereiten, indem wir selbst in uns den Weg frei machen: Tut Buße: räumt weg, was im Wege ist, räumt beiseite, was stört.

Es ist die Klarheit, mit der Johannes redet, die so fasziniert, die damals schon viele Menschen, eben noch als Schlangebrut beschimpft, bewegte, sich taufen zu lassen in diesen Herrn hinein; die hier in dieser Klarheit einen Weg der Erlösung erkannten; die umkehrten, neu anfingen.

Johannes steht für den Ernst des Glaubens, aber auch für seine Kraft und Entschiedenheit. Und er ist keineswegs ein weltfremder Spinner. Er weiß, wovon er redet und wer ihn sendet. Und er kannte seine Grenzen, nahm diese Berufung sehr ernst: ein Prophet des Höchsten zu sein, der dem Herrn vorangeht! Ich taufe mit Wasser, jener wird taufen mit dem Heiligen Geist, so sagt er bei Jesu Taufe. Johannes weiß, dass Jesus nicht nur ein Hinweis auf Gott ist, sondern dass in ihm Gott selbst begegnet und zu den Menschen spricht! „Meine Freude ist erfüllt. Er muss zunehmen, ich aber muss abnehmen!“

Johannes will nichts anderes, als die Menschen für diesen Jesus aufzuschließen, zu öffnen für sein Tun und Reden.

III

Liebe Schwestern und Brüder, es war der Johannitag 1943, als die vier zum Tode verurteilt wurden. Auch darum verstehe ich das Lebenszeugnis der vier Lübecker Märtyrer als Lebenszeugnis in der Spur Johannes des Täufers. Die vier jedenfalls haben sich nie als Helden verstanden, sondern als Christenmenschen, die wie der lange dürre Finger des Johannes auf dem Isenheimer Altar weg wiesen von sich selbst und hin wiesen auf den gekreuzigten Jesus. Von Karl Friedrich Stellbrink wissen wir, wie erschüttert und verzweifelt er war, als er 1942 in die Vorwerker Friedhofskapelle kam und dort die große Figur des gekreuzigten Christus vorfand – verhängt mit einem schwarzen Mantel. Unmittelbar zuvor war dort die Trauerfeier für eine lokale Nazigröße abgehalten worden – und dabei hatte zu gelten: Juden unerwünscht! Und: Christus unerwünscht! – Spätestens da war für Stellbrink wiederum klar, wohin der Nazi-Wahn führt.

Wie anders wurde dann die Erfahrung der vier miteinander in der Ökumene der Märtyrer: Je näher wir zu Christus kommen, desto näher kommen wir zueinander!

Das ist das Entscheidende: Zu Märtyrern waren die Vier schon geworden, bevor sie ermordet wurden: Martyria – Zeugnis: das entscheidende Kennzeichen der Kirche Jesu Christi! Nicht erst der Blutzoll macht nach unserer Auffassung selig, sondern die Taufe und das Leben aus ihr, das Leben, das aus der Taufe kriecht, wie Luther sagt. Die Wahrhaftigkeit macht die Seligen zu Zeugen. Denn: die Seligkeit, die Jesus zugesprochen hat, ist durch nichts zu überbieten: selig sind die Friedfertigen; selig sind, die um meines Namens willen verfolgt werden.

Diese Tage sind auch deshalb eine Mahnung an uns, weil nicht selbstverständlich das Zeugnis von Karl Friedrich Stellbrink in Ehren gehalten worden ist. Eine geschichtsvergessene Gesellschaft und auch seine Kirche haben sich nicht klar zu ihm bekannt, sondern versucht, die Rolle Karl Friedrich Stellbrinks herunter zu spielen. Das hat seiner Familie und Freunden erneutes Leid zugefügt. Wer sich mit dem Zeugnis der Vier beschäftigt und sich erinnert, bekommt es mit der ganzen Geschichte der Zeit zu tun, mit Schuld und Versagen, mit Verantwortung. Und es ist zu bekennen: es gab zu wenig Widerstand, zuviel Verstrickung.

Erst 1993, 50 Jahre nach dem Todesurteil, hat die Nordelbische Kirche sich bekannt zu ihrer Schuld und zu Karl Friedrich Stellbrink. „Die 50jährige Wiederkehr des Todestages am 10. November 1993 ist Anlass für die Nordelbische Kirche, Pastor Stellbrinks und seiner katholischen Amtsbrüder als Zeugen der christlichen Wahrheit und als Opfer eines unmenschlichen Regimes zu gedenken. Das Blutzeugnis dieser vier Lübecker Märtyrer, die sich dem Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus widersetzten, ist für die evangelische wie für die katholische Kirche ein bleibendes Vermächtnis und eine ökumenische Verpflichtung“. Und nach einem Schuldbekenntnis fügt die Erklärung hinzu: „Die Kirchenleitung stellt mit Dankbarkeit fest, dass die katholische Kirche diese Form der Isolierung und Distanzierung gegenüber ihren Geistlichen nicht mitvollzogen hat. Sie hat das Märtyrergedenken unter Einschluss von Pastor Stellbrink von Anfang an lebendig gehalten und damit einen wichtigen ökumenischen Dienst getan. Auch die Luther-Gemeinde in Lübeck ehrt jährlich in einem Gottesdienst ihren ehemaligen Pastor… Die vier Lübecker Märtyrer stehen für eine Kirche Jesu Christi, die nicht lavieren und sich nicht in den Dienst des Unrechts stellen darf.“

Wir danken dem Ökumenischen Arbeitskreis 10. November hier in Lübeck und allen Menschen, die seit vielen Jahren gegen das Vergessen der Zeugen arbeiten.

Darum ehren wir die Zeuginnen und Zeugen des Glaubens: weil sie uns alle mahnen, unseren Glauben zu leben, Jesus selbst nahe zu kommen und zu bleiben, den Mund aufzutun für das Recht und die Gerechtigkeit, den Frieden und die Gastfreundschaft. Widerstand zu leisten den Mächten, die dem Leben nicht dienen, damals wie heute. Denn: das Geheimnis der Erlösung ist die Erinnerung, sagt der Talmud. Hoffnung wächst aus Erinnerung – nicht aus Vergessen und Verdrängen; Hoffnung wächst aus dem Hören auf Gottes Wort, nicht aus dem Geplapper der Welt und ihren Ideologien; Hoffnung wächst aus dem Reden der Liebe, nicht aus dem Verschweigen der Wahrheit; Hoffnung wächst aus dem Tun des Gerechten, nicht aus dem Gewährenlassen von Unrecht!

Glaube wächst aus der Vergewisserung der Gebote und Verheißungen Gottes. Denn: nur, wenn wir wissen, woher wir kommen, welches unser Grund ist, auf dem wir stehen, können wir gehen in die Zukunft, können wir bauen die gerechte und friedvolle Welt!

Wir ehren die Vorbilder im Glauben, weil sie erkennen lassen die Gnade Gottes, sagen die Lutherischen Bekenntnisschriften, und weil an ihnen unser eigener Glaubensmut wachsen kann. Denn wir brauchen Vorbilder des Glaubens, damit wir nicht feige wegschauen, wenn der alte Geist sich neu erhebt, sondern mit Recht ihm entgegenstehen; damit wir nicht verstummen, sondern den Mund auftun für Frieden und Gerechtigkeit hier und überall. Damit wir unser Leben unter die Macht des einzigen Herrn stellen.

Unter dem Kreuz Jesu stehen wir alle mit leeren Händen da. Wir haben nichts zu bieten als die Last unserer Schuld und die Leere unserer Herzen. Unter dem Kreuz Jesu werden Gottlose gerechtfertigt, Feinde versöhnt, Gefangene befreit, Arme reich gemacht und Traurige mit Hoffnung erfüllt. Unter dem Kreuz Jesu stehen wir als getaufte Kinder Gottes. Und da sollen wir auch stehen bleiben wollen – zusammen mit Hermann Lange, Eduard Müller, Johannes Prassek, Karl Friedrich Stellbrink.

Amen.


[1] Mit identischen Worten schrieb auch Eduard Müller dieses Gebet vorne in sein Neues Testament, so dass man annehmen könnte, beide hätten den Text aus derselben Quelle abgeschrieben – einer religiösen Zeitschrift, einem Traktat oder ähnlichem – oder der eine Kaplan hat den Text vom anderen, was voraussetzt, dass Sie miteinander Kontakt und Austausch hatten, vielleicht über Kassiber? All das ist noch Spekulation und harrt noch der Erforschung. [Anm. der Red.]

 

Info


Bischof Gerhard Ulrich predigte im evangelischen Gedenkgottesdienst für die vier Lübecker Märtyrer in der Lutherkirche in Lübeck am 24. Juni 2011, am Vorabend der Seligsprechung.