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Theresia Kraienhorst: Die Märtyrer des 20. Jahrhunderts

Feiertag auf DLR Kultur am 22. April 2011

Es ist weit mehr, was uns verbindet, als was uns trennt. – Das war auch die Erfahrung der vier Männer, die am 10. November 1943 im Hamburger Gefängnis Holstenglacis hingerichtet wurden: die drei Lübecker Kapläne Johannes Prassek, Eduard Müller und Hermann Lange und dazu der evangelische Pastor der Lübecker Lutherkirche, Karl-Friedrich Stellbrink.

Gemeinsam nannten sie das Unrecht der Nazis beim Namen, gemeinsam erlitten sie Folter und Gefängnis, gemeinsam wurden sie von Nazi-Richtern verurteilt,
gemeinsam starben sie den Märtyrertod. Im Abstand von drei Minuten starben sie durch das Fallbeil. Ihr Blut floss ineinander.

Es gibt keinen Beleg dafür, dass die vier Lübecker Geistlichen das Wort Ökumene jemals gebraucht hätten. Sie haben die Ökumene gelebt. Am 25. Juni dieses Jahres werden die Lübecker Kapläne selig gesprochen, Karl-Friedrich Stellbrink erhält ein ehrendes Gedächtnis.

Was hat diese Männer bewegt, was hat sie angetrieben? Und was bedeutet ihr gemeinsam erlittener Tod vor fast 70 Jahren für das Zusammenleben von katholischen und evangelischen Christen in unseren Tagen?

Die vier Lübecker Märtyrer sollen hier stellvertretend für die vielen Christen stehen, die im 20. Jahrhundert für ihren Glauben gestorben sind. Papst Johannes Paul II hat über sie gesagt:

„Die Generation, der ich angehöre, hat den Schrecken des Krieges, die Konzentrationslager und die Verfolgung kennengelernt. In meiner Heimat wurden während des Zweiten Weltkriegs Priester und Christen in Vernichtungslager deportiert. Allein in Dachau waren etwa dreitausend Priester interniert. Ihr Opfer vereinte sich mit dem Opfer vieler Christen, die aus anderen europäischen Ländern kamen und mitunter anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften angehörten.

Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und der darauffolgenden Jahre hat mich dazu geführt, mit dankbarer Aufmerksamkeit das leuchtende Beispiel all jener zu betrachten, die seit den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts bis zu seinem Ausgang Verfolgung, Gewalt und Tod auf sich nahmen um ihres Glaubens willen und wegen ihres Verhaltens, das von der Wahrheit Christi beseelt war. Es sind so viele! Ihr Gedächtnis darf nicht vergessen werden. Mehr noch: Es muss dokumentiert und wiedergewonnen werden.“

Vier Geistliche und 18 Laien wurden 1942 in Lübeck von den Nazis verhaftet und vor Gericht gestellt. Die drei katholischen Priester und der evangelische Pastor wurden zum Tode verurteilt, die anderen Angeklagten wurden zum Teil zu langjähriger Haft verurteilt, zum Teil freigelassen.

Die Anklage des Volksgerichtshofes für die drei Kapläne lautete:

„Ihnen ist zur Last gelegt, seit 1940 oder Anfang 1941 ständig deutschsprachige Sendungen des feindlichen Rundfunks abgehört und verbreitet und dadurch die Feindpropaganda gefördert zu haben. Sie haben ferner seit Frühjahr oder Sommer 1941 auf Anordnung Ihrer vorgesetzten Kirchenbehörde regelmäßig Gruppenabende veranstaltet, die der religiösen Vertiefung der Teilnehmer dienen sollten und zu denen sich auf Einladung durch die Angeklagten überwiegend junge Männer einfanden, die zum Teil der Wehrmacht angehörten und die weitere Gäste einführten; sie sind weiter beschuldigt, auf diesen Gruppenabenden durch Hetze gegen den nationalsozialistischen Staat, und zwar auch durch Verteilung von Schriften, dem Kriegsfeind Vorschub geleistet und Vorbereitung zum Hochverrat begangen zu haben.“

Radio hören und offene Gespräche führen – wir können uns heute kaum vorstellen, dass man wegen dieser Anklagepunkte das Leben verlieren kann. Und doch war es so.

Besonders deutlich wird das an den Predigten von Kardinal von Galen: Im August 1941 hatte der damalige Bischof von Münster in drei mutigen Predigten unter anderem die Willkürherrschaft der Gestapo und vor allem die Krankenmorde durch die sogenannten Euthanasie-Aktionen angeprangert. Diese drei Predigten verbreiteten sich rasend schnell, wurden abgeschrieben, vervielfältigt und weitergegeben. Es muss für viele Christen wie eine Befreiung gewesen sein: Endlich hatte ein deutscher Bischof öffentlich die Wahrheit über das Unrecht im Nazi-Staat gesagt.

Wer diese Predigten las und weiter verbreitete, musste damit rechnen, verhaftet und verurteilt zu werden. Die vier Lübecker Geistlichen hatten genau das getan. Ganz bewusst. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Für diese Überzeugung sind sie in den Tod gegangen.

Papst Benedikt hat diese Ökumene des Leidens besonders gewürdigt:

„Die bezeugte Freundschaft der vier Geistlichen im Gefängnis ist ein eindrucksvolles Zeugnis der Ökumene des Gebets und des Leidens, wie sie vielerorts in jenen dunklen Tagen nationalsozialistischen Terrors unter Christen verschiedener Konfessionen aufgeblüht ist. Für unser gemeinsames Voranschreiten in der Ökumene dürfen wir diese Zeugen dankbar als leuchtende Wegmarken wahrnehmen.

An diesen Märtyrern wird exemplarisch deutlich, wie Menschen aus ihrer christlichen Überzeugung heraus für den Glauben, für das Recht der ungehinderten Religionsausübung und der freien Meinungsäußerung, für Frieden in Freiheit und für die Menschenwürde ihr Leben hinzugeben bereit sind.“

Die vier Geistlichen haben ihr Leben hingegeben. So sprechen wir aus siebzig Jahren Distanz. Doch der katholische Gefängnisgeistliche Bernhard Behnen hat die letzten Stunden der drei katholischen Priester miterlebt – und hat sie auf ihrem Weg zur Guillotine begleitet:

„Gewiss, die Monate vor ihrer Verurteilung zum Tode schien in ihr Leid die Sonne der Hoffnung hinein, dass sie doch noch freigesprochen würden, und als die Todesstrafe herausgekommen war, hatten sie die Hoffnung, besonders der Adjunkt, auf Begnadigung und Entlassung, denn wir dürfen nicht vergessen, dass sie aus Hass, Verleumdung und Boshaftigkeit heraus zum Tode verurteilt worden waren. Darum war die Enttäuschung auch so groß, das Leid so bitter, als ihnen am 10. November 1943, mittags ein Uhr, verkündigt wurde, dass das Todesurteil abends um sechs Uhr vollstreckt würde.

Ich hatte versucht, sie so gut es ging mit der Todesstrafe und mit der Vollstreckung vertraut zu machen. Es war auch gut gewesen. Ich ging zuerst in die Todeszelle des Adjunkten Müller, weil ich annahm, er würde am meisten darunter leiden. Er kam mir aber sehr verklärt und heiter entgegen. Gewiss, sein Antlitz war leichenblass und seine Arme und Knie zitterten, aber nur für kurze Zeit.

Ich hatte ihn sofort in meine Arme genommen und an mein Herz gedrückt. Einige Augenblicke verharrten wir in aller Stille, ohne etwas zu sagen, die Herzen sprachen zueinander von dem, was in unserem Innern vor sich ging. Dann beteten wir, bis der Adjunkt sich mit den Worten erhob: 'So, nun bin ich gerüstet, ich hoffe kurz vor meinem Tode noch zum letzten Male meinen Herrn und Heiland empfangen zu dürfen und werde dann an seiner Seite den Gang machen.' Von diesem Augenblick an verließ ihn die Ruhe und Heiterkeit nicht mehr.“

Und genau dieselbe Ruhe und Gefasstheit erlebt Gefängnispfarrer Behnen bei den beiden anderen Kaplänen. Und dann kommt der Abend.

„Es wurde allmählich sechs Uhr abends. An erster Stelle musste der Adjunkt Müller den letzten Gang machen. Nachdem man ihn ausgezogen hatte, wurden ihm die Arme auf dem Rücken gefesselt. Wir gingen Seite an Seite zum Schafott. Unterwegs betete er:

'Jesus, Maria und Josef, euch schenke ich meinen Leib und meine Seele. Jesus, Maria und Josef, steht mir bei im letzten Todeskampfe. Jesus, Maria und Josef, mit euch möge meine Seele in Frieden ruhen.'

Unmittelbar vor dem Schafott lehnte er sich so gut wie er konnte an mich und dann sagte er: 'Herr Pfarrer, auf ein frohes Wiedersehen im Himmel! Aber grüßen sie noch aufs Herzlichste meine lieben Lübecker, die ich nie vergessen werde!'“

Die Priester sterben im Abstand von drei Minuten. Als letzter wird der evangelische Pastor Stellbrink geholt. Pastor Eske, der evangelische Gefängnisseelsorger ist bei ihm. Er berichtet, wie er seinen Mitbruder anschaut:

„Auf den Hals – auf die Stelle – wo – in den nächsten Minuten – nein! Nicht denken – das Grauen schüttelt mich... Noch einmal reiche ich ihm die Hand. Trotz der Festlegung auf dem Rücken fassen sich unsere Hände in einem festen Druck, der mehr als Worte sagt. – Dann lege ich meine Hand auf seine entblößte Schulter, unsere Augen tauchen tief ineinander: 'Auf Wiedersehen – im Himmel!' Langsam wiederholt er diese Worte.

Ein Lichtzeichen blinkt auf, es ist Zeit zu gehen. Stellbrink ist völlig still und ruhig. An der Tür wendet er mir noch einmal sein Gesicht zu - diese weiße, zuckende Gesicht - mit einem langen gequälten Blick grüßen seine Augen - zum letzten Mal.“

Am 25. Juni feiern die Christen im Norden die Seligsprechung der drei katholischen Kapläne, Pastor Stellbrink erhält dabei ein ehrendes Gedenken. Für die katholischen Christen ist die Seligsprechung ein großes und frohes Ereignis. Die evangelischen Christen tun sich damit etwas schwerer. Bischof Gerhard Ulrich, der Vorsitzende der Kirchenleitung der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, beschreibt das so:

„Bekanntlich kennen wir in der Evangelischen Kirche keine Seligsprechung im Sinne des Kirchenrechts, wie es in der Katholischen Kirche gültig ist. Wir Evangelischen sollen und wollen gleichwohl der Heiligen und Märtyrer als Vorbilder im Glauben gedenken, dass wir unseren Glauben stärken. So steht es im grundlegenden Bekenntnis der Evangelisch-Lutherischen Kirchen, im Augsburger Bekenntnis von 1530, Artikel 21.

Die weltweite Ökumene ist über alle Grenzen und Unterschiede der Konfessionen hinweg vor allem aber noch in einem ganz grundlegenden Sinne miteinander verbunden: Die Heilige Schrift ist und bleibt das Fundament der Einheit, in dem die vielgestaltige und bunte christliche Weltfamilie zusammengehalten wird.

In diesem Sinne verstehe ich die genannte Seligpreisung Jesu aus der Bergpredigt. Sie ist eine Seligsprechung ganz besonderer Art: Jesus Christus selbst spricht selig die Menschen, die Verfolgung erleiden, weil sie für Gott und seine gerechte Sache einstehen und kämpfen.“

Papst Benedikt hat von der „Ökumene des Gebets und des Leidens“ gesprochen; für ihn sind die Lübecker Märtyrer "leuchtende Wegmarken für die Ökumene".

Maria Jepsen, ehemals Bischöfin in Hamburg, sieht diese ökumenische Verbundenheit der Lübecker Geistlichen in ihrem gemeinsamen Fundament, nämlich im Evangelium:

„Sie haben sich von dem Evangelium leiten lassen, nicht zwei Herren zu dienen. Nur Gott allein, Christus allein wussten sie sich verpflichtet, verbunden. Im Geringsten treu zu sein, war ihnen so wichtig, wie im Großen treu zu sein. Sie haben in ihren Gemeinden klare Worte gesprochen und ohne ängstliche Heuchelei oder bequeme Anpassung ihren Dienst getan.

Die vier Geistlichen haben in unterschiedlicher Weise ihren Glauben gelebt, aber in den entscheidenden Augenblicken haben sie gezeigt, wer der Herr über Himmel und Erde ist, wer Anspruch hat auf unser ganzes Leben, ob wir geweiht, ordiniert sind oder nicht. Denn in der Taufe sind wir alle in den Herrschaftsbereich Jesu Christi hineingeholt, in seine Heiligkeit aufgenommen.

Johannes Prassek und Hermann Lange, Eduard Müller und Karl Friedrich Stellbrink wollten nicht zwei Herren dienen, sondern nur dem einen, Jesus Christus, der von uns Klarheit und Geradlinigkeit erwartet, im Geringsten wie im Großen.

Auch heute brauchen wir solche mutigen Menschen, die nicht halbherzig nur ihren Glauben leben. Wir brauchen die gegenseitige Unterstützung, dass wir alle Verdrehungen und Verharmlosungen der guten Botschaft Gottes bei Namen nennen, im persönlichen und kirchlichen, im gesellschaftlichen und politischen Leben. Wir haben wachsam uns selber und das, was in unseren Kirchen geschieht, von ihnen gesagt und weitergegeben wird, zu prüfen, kritisch in Beziehung zu setzen mit dem, was die Bibel, die Bibel allein, von uns fordert.“

Welche Konsequenzen hat das gemeinsame Leiden und Sterben der Lübecker Märtyrer für die heutigen Christen im Norden? Was ist das Erbe der Märtyrer? Wie weit kann die Ökumene gehen? Die evangelische Lübecker Pröpstin Petra Kallies hat ihre Wünsche beim alljährlichen Märtyrergedenken in Lübeck so formuliert:

„Ich wünsche mir, dass wir Evangelischen die Seligsprechung der drei Kapläne nicht nur als 'innerkatholische Angelegenheit' hinnehmen. Das wird dem Erbe der vier Lübecker Märtyrer nicht gerecht. Es muss uns zu mehr Gemeinsamkeit führen! Wie bezeugen wir als Christinnen und Christen unseren Glauben vor der Welt? Es reicht nicht mehr aus, nur gut nachbarschaftlich miteinander zu leben. Ob es uns eines Tages doch noch gelingt, eine ökumenische Schule mit ökumenischem Religionsunterricht auf den Weg zu bringen? Ob es uns eines Tages gelingt, gemeinsam das Abendmahl zu feiern, das sichtbare Zeichen der Gemeinschaft mit Gott und untereinander?“

Ökumene des Leidens und des Gebetes – am Karfreitag spüren wir Christen, dass die Märtyrer ihr Bekenntnis zu Jesus Christus mit dem eigenen Blut bezahlt haben; aber wir vertrauen darauf, dass hinter dem Leiden und Sterben auf Golgotha der Ostermorgen aufleuchtet.

In den Tagen vor dem Prozess schrieb Kaplan Johannes Prassek in seine Ausgabe des Neuen Testaments ein von ihm formuliertes Gebet nieder:

Ich nehme auf mich das Kreuz. 
In Deiner Kraft, mein Herr und Heiland,
nehme ich auf mich das Schwere,
das Gott mir zugedacht,
mit Dir spreche ich zum Vater im Himmel.
Dein Wille geschehe.
Dein Wille geschehe in mir und durch mich.
Ich vertraue fest,
dass mir alles aus Deiner Liebe kommt.
Ich glaube, dass Kummer und Mühsal
mir Stufen werden können zur Höhe.
Jesus Christus, sei Du mit mir!
Du hast Dein Kreuz auf Dich genommen.
Du weißt, wie schwer es ist, ein Kreuz zu tragen.
Mein Herz ist bereit, o Gott, ich bin bereit.
Gib mir Deine Kraft: zu überwinden und zu bestehen.
Amen.

 

Info


Sprecher: Pastoralreferentin Theresia Kraienhorst
Sender: Deutschlandradio Kultur
Datum: Sonntag, 22. April 2011