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Point of no return

Aus dem Werkheft der Glaubenswoche 1993

Auf der Flugstrecke von Honolulu nach San Francisco gibt es eine Stelle, die der Punkt des Nicht-Zurückkehren-Könnens genannt wird: the point of no return; von hier ab ist es mit dem Flugzeug nicht möglich, mit dem verbliebenen Treibstoff zurückzufliegen. Es muß ans Ziel...

Der 10. November graut über dem Zuchthaus Hamburg-Holstenglacis herauf, bis Mittag eintönig und entnervend wie die 142 vorhergegangenen Tage des Wartens auf den Tod. Sie müssen gerade mit dem Essen fertig gewesen sein, als Schlüssel rasseln und die Beamten ihnen vorschriftsmäßig ankündigen: Heute 18 Uhr Urteilsvollstreckung. Das Jahr 1943 stand im Zeichen einer ganzen Folge militärischer Niederlagen. Im Innern ging Hitlers Geheime Staatspolizei um so schärfer gegen heimliche und offene Kritiker des Regimes vor. Die drei Kapläne der damals einzigen katholischen Gemeinde in Lübeck, Johannes Prassek (32), Eduard Müller (32), Hermann Lange (31), und der evangelische Pastor der Luthergemeinde, Karl Friedrich Stellbrink (49), hatten auf der Kanzel und in Jugendgruppen die Verbrechen als solche bezeichnet, Flugschriften hergestellt und verteilt, vor allem die berühmte Predigt des Kardinals von Galen gegen die Euthanasie.

Prassek nahm Zwangsarbeitern die Beichte ab, er lernte dazu eigens Polnisch. Stellbrink verkehrte offen mit Juden. Man hörte „Feindsender“ und tauschte Nachrichten aus. Die in einer Demokratie legitimen Mittel der Aufklärung, des Protestes, des Eintretens für die Menschenrechte waren und sind in totalitären Systemen lebensgefährlich. Die Lübecker wußten, was sie riskieren. In einem Scheinprozeß wurden sie ais Volksverräter verurteilt. Die mit ihnen angeklagten Laien kamen mit Haftstrafen davon. Unter dem 22. 6. 1943 schrieben Prassek und Müller getrennt voneinander in ihr Neues Testament: „Sit nomen Domini benedictum – Heute wurde ich zum Tode verurteilt.“

Sie waren von ganz unterschiedlichem Zuschnitt. Eduard Müller, Sohn eines Schuhmachermeisters aus Neumünster, jüngstes von sieben Kindern, ist „Spätberufener“ – gelernter Tischler. Er wird als lebensnaher, verläßlicher und engagierter Kleine-Leute-Priester geschildert. Hermann Lange, geboren im ostfriesischen Leer, Vater Navigationslehrer. Fraglos fromm, behütet, intelligent und sensibel, entwickelt er sich, von den Idealen der Jugendbewegung geprägt, zu einer vorbildhaften Priestergestalt. War er deshalb der am meisten Angefochtene im Prozeß? Johannes Prassek, gebürtiger Hamburger, drittes Kind eines Maurers, ist wohl der Profilierteste von den dreien, aber auch er nicht das Modell eines Helden und Heiligen. Er hat in seiner Familie viel Not erlebt. Im Priesterseminar kommt es zwischen ihm und seinen Vorgesetzten zu Spannungen, und er wird zunächst von der Weihe zurückgestellt. Seine Seelsorge fällt aus dem Rahmen. Er wagt sich in seiner Regimekritik am weitesten vor. Er begegnet auf einer Beerdigung dem Pastor der evangelischen Lutherkirche. Bemerkungen fallen, man versteht sich, trifft sich öfter zum Gespräch, plant gemeinsame Aktionen. Stellbrink ist eine ungewöhnliche Pastorengestalt. Vom Wesen her ebenso dynamisch und kompromißlos wie verinnerlicht, ist er ein leidenschaftlicher Wahrheitssucher, ein mitreißender, biblischer Prediger, ein fordernd-liebender Ehemann und Vater. Stellbrink trat, wie damals so mancher deutsche Patriot, der jungen NSDAP bei – und kehrte ihr den Rücken, als ihm die Augen aufgingen, bzw. die Partei stieß ihn aus. Stein des Anstoßes war er auch in seiner Landeskirche. Stellbrink ist bis zuletzt überzeugter evangelischer Christ geblieben. Er saß übrigens im Gefängnis zeitweilig mit Lange zusammen. „Wir sind wie Brüder“ (Lange).

In der halbjährigen Haft werden die Gefangenen von Unterernährung. Isolation und vor allem den Zweifeln an der Rechtmäßigkeit ihres Tuns gequält. Sie durchlitten einen tiefgreifenden Konflikt zwischen Gehorsam und Gewissen. Diese Unsicherheit ging bis hinauf in die Hierarchie beider Kirchen.

Es gibt aber auch strahlende Momente. Frauen gelingt es auf geradezu abenteuerliche Weise, Oblaten, Meßwein und sogar konsekrierte Hostien ins Gefängnis zu schmuggeln. Der Hunger der Gefangenen nach der Eucharistie und ihre überwältigende Dankbarkeit sind ein Zeugnis für sich.

In den Todeszellen spielen sich in den Stunden vor der Hinrichtung erschütternde Szenen ab. Schweiß, Zittern, Weinen, Gestammel. Und dann der Durchbruch eines jenseitigen Glanzes. Letztes Abendmahl. Abschiedsbriefe. Das Blut der vier ist buchstäblich ineinandergeflossen. Die Enthauptungen erfolgten laut Protokoll im Abstand von drei Minuten.

In der Krypta der katholischen Herz-Jesu-Kirche in Lübeck wird jedes Jahr am 10. November zur Hinrichtungsstunde um 18 Uhr ein neuzeitliches „Martyrologium“ verlesen, das Namen und Tat der drei katholischen Priester und des evangelischen Pastors verkündet.

In den letzten Stunden vor seiner Hinrichtung schreibt Vikar Hermann Lange an seine Eltern:

„Wenn ihr diesen Brief in Händen haltet, weile ich nicht mehr unter den Lebenden! Das, was nun seit Monaten unsere Gedanken immer wieder beschäftigte und nicht mehr loslassen wollte, wird nun eintreten... Wenn Ihr mich fragt, wie mir zumute ist, kann ich Euch nur antworten: ich bin 1. froh bewegt, 2. voll großer Spannung!

Zu 1.: Für mich ist mit dem heutigen Tage alles Leid, aller Erdenjammer vorbei, und ‚Gott wird abwischen jede Träne von ihren Augen‘. Welcher Trost, welche wunderbare Kraft geht doch aus vom Glauben an Christus, der uns im Tode vorausgegangen ist. An Ihn habe ich geglaubt, und gerade heute glaube ich fester an Ihn, und ich werde nicht zuschanden werden. Wie schon so oft möchte ich Euch auch jetzt noch einmal hinweisen auf Paulus. Schlagt doch die folgenden Stellen einmal auf: 1 Kor 15, 43 ff.55! Röm 14,8. Ach schaut doch hin, wo immer Ihr wollt, überall begegnet uns der Jubel über die Gnade der Gotteskindschaft. Was kann einem Gotteskinde schon geschehen? Wovor wollt ich mich denn wohl fürchten? Im Gegenteil: ‚Freuet euch, nochmals sage ich euch, freuet euch!‘

Und 2.: Heute kommt die größte Stunde meines Lebens! Alles, was ich bis jetzt getan, erstrebt und gewirkt habe, es war letztlich doch alles hinbezogen auf jenes Ziel, dessen Band heute durchrissen wird. ‚Was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört hat und was in keines Menschen Herz gedrungen ist, hat Gott denen bereitet, die ihn lieben‘ (1 Kor 2,9). Jetzt wird für mich der Glaube übergehen in Schauen, die Hoffnung in Besitz, und für immer werde ich Anteil haben an dem, der die Liebe ist! Da sollte ich nicht voller Spannung sein? Wie mag alles sein? Das, worüber ich bisher predigen durfte, darf ich dann schauen? Da darf ich mich hinkuschen zu Füßen derer, die mir hier auf Erden Mutter und Führerin war! Und die hl. Theresia vom Kinde Jesu, meine besondere Freundin, nimmt mich dann an die Hand! Heute ist die große Heimkehr ins Vaterhaus, und da sollte ich nicht froh und voller Spannung sein? Und dann werde ich auch all die wiedersehen, die mir hier auf Erden lieb waren und nahestanden...“

Arbeitskreis Glaubenswoche 1993, Diözesan-Jugendamt Osnabrück

 

Info


Die Glaubenswoche der Jugend fand 1993 unter dem Motto „Mut, Widerstand, Zivilcourage - Verbotene Früchte des Glaubens?“ im Bistum Osnabrück statt, zu dem damals auch das heutige Erzbistum Hamburg gehörte. Mitarbeiter aus beiden Bistumsteilen erstellten ein Werkheft, in dem unter anderem auf den Jugendkatholikentag in Lübeck im selben Jahr vorbereitet wurde und der an die Lübecker Märtyrer erinnert hat.